Einleitung: Eine polyphone Geschichte des Burgerlärms

Im Sommer 1749 herrscht Unruhe in Bern. Ende Juni haben sich siebzig unzufriedene Burger verschworen, um eine grundlegende Reform der Stadtrepublik zu initiieren – und notfalls die aktuelle Regierung zu stürzen. Beim Geheimen Rat denunziert, lässt diese die Stadt kurzerhand militärisch sichern und die Verschwörer verhaften. Am 17. Juli werden Samuel Henzi, Niklaus Wernier und Emanuel Fueter öffentlich als Anführer eines Umsturzversuchs enthauptet. Andere Konspiranten werden in effigie hingerichtet, verlieren ihr Bürgerrecht oder werden aus der Stadt verbannt. Der "Burgerlärm" oder die "Henzi-Verschwörung", wie das Ereignis später genannt wird, entfaltet bald ein gewaltiges internationales Medienecho. Während zahlreiche Regierungen den "Gnädigen Herren von Bern" zur Abwendung des Umsturzes gratulieren, stilisieren Aufklärer wie der deutsche Dichter Gotthold Ephraim Lessing die Hingerichteten zu Märtyrern der Freiheit.

So kontrovers das Ereignis in der Berner Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts dargestellt wurde, so wenig ist immer noch über den genauen Ablauf, die Motive der Akteure und die medialen Übersetzungen der Henzi-Verschwörung bekannt. In einem Forschungsseminar an der Universität Bern untersuchten Studierende im Herbst 2024 mithilfe von KI-gestützten Transkriptionstools zahlreiche handschriftliche Dokumente aus Berner Archiven. Sie rückten dabei einzelne Akteurinnen und Akteure in den Blick, deren Rolle bisher teilweise kaum bekannt gewesen war. Daraus enstand 275 Jahre nach dem Ereignissen in Ansätzen eine "polyphone Geschichte" (Yair Mintzker) des Berner Burgerlärms, die in den vorliegenden Essays dokumentiert ist. Die handschriftlichen Memoranden der Anführer, Verhörprotokolle und Aufzeichnungen des Geheimen Rats von Bern dienten dafür ebenso als Quellen dienen wie Bilder, Zeitungsberichte und literarische Texte.

Die nachfolgenden Beiträge beleuchten die Ereignisse vom Sommer 1749 und deren Rezeptionsgeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven. Da ist zum einen die Sicht von "Hauptverschwörern" wie dem geköpften Stadtleutnant Emanuel Fueter und den geflüchteten, in effigie hingerichteten Gabriel Fueter, Christian Daniel Fueter und Gottfried Kuhn. Unter grossem Druck gestanden sie im Verhör die Beteiligung an einem Umsturzversuch oder wurden von anderen Inhaftierten dermassen belastet, dass der Grosse Rat sie zum Tode verurteilte. Zurück blieben Witwen wie Katharina Henzi-Malacrida, die von der Obrigkeit nur noch die geringe Gnade einer ehrenvollen Hinrichtung hatte erwirken können und mit den Söhnen das Land verliess. Etwas glimpflicher als die "Hauptverschwörer" kam der verbannte Fabrikant Johann Friedrich Küpfer davon - der einige Jahre später vom Geheimen Rat gleichwohl verdächtigt wurde, eine neue Konspiration anzuzetteln. Eine besonders ambivalente Rolle spielte auch der "Verräter" Friedrich Ulrich, der sich in den Verhören nicht als solcher zu erkennen geben wollte und damit lieber eine milde Verurteilung auf sich nahm, als den Hass der Stadtbevölkerung auf sich zu ziehen.

Die Reaktion der Obrigkeit beschränkte sich jedoch nicht auf Verfolgung und Repression. Die Berner Ratsherren versuchten auch, die Deutungshoheit über die Ereignisse zurückzugewinnen, die angesichts der wachsenden medialen Kritik in der europäischen Presse verloren zu gehen drohte. So entstand binnen weniger Wochen ein über die Kanzeln und diplomatische Kanäle verbreitetes Regierungsnarrativ, das die Verschwörer als gottlos und mörderisch, die Regierung als milde und gnädig qualifizierte. Auch die Rede des Pflichtverteidigers der Angeklagten Alexander Ludwig von Wattenwyl geriet zur Apologie des bestehenden Systems. Bei ihm wie auch beim Ratsherrn Friedrich von Mülinen lassen sich aber auch subtilere Auseinandersetzungen mit den historisch-rechtlichen Argumenten der unzufriedenen Burger lassen sich in handschriftlichen Nachlässen finden, die mit das Feld bereiteten für einige moderate Reformen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

An einzelnen Elementen wie der (vermuteten) Lehrer-Schülerin-Beziehung zwischen Samuel Henzi und Julie Bondeli zeigt sich schliesslich exemplarisch, wie der Burgerlärm und seine Protagonist:innen bis ins frühe 21. Jahrhundert in der lokalen Erinnerungskultur nachlebten - und sich manche auf unsicherem Faktengrund aufgebauten Teilgeschichten mehr und mehr verselbständigten. Während viele vergessen gegangene Stimmen mithilfe von Archivquellen wieder rekonstruiert werden können, kommen im Zuge der historischen und literarischen Aufarbeitung auch immer noch neue Deutungen hinzu und geben dem Ereignis auch nach mehr als 275 Jahren einen schillernden, polyphonen Charakter.

Leitung und Kontakt: Debora Heim, Christa Schneider und Nadir Weber