Autoren: Gian-Luca Civelli, Manuel Wyder
Erstellt: 15. November 2024
Aktualisiert: 20. Dezember 2024
Alexander Ludwig von Wattenwyl: Der Pflichtverteidiger
Es ist der 17. Juli 1749. In Bern werden an diesem Tag die drei Hauptangeklagten eines versuchten Umsturzes gegen das regierenden Patriziats enthauptet. Vor den Augen vieler schaulustiger Bürger und Mitglieder des Berner Grossrates lassen Samuel Henzi, Emanuel Fueter und Niklaus Wernier ihr Leben für den Widerstand gegen die Berner Obrigkeit.[1] Der als «Henzi-Verschwörung» bekannte Umsturzversuch ist aus heutiger Sicht eine sich abzeichnende Entwicklung, gab es doch bereits seit Anfang des 18. Jahrhunderts in Bern Gerüchte und kleinere Unruhen rund um die Berner Obrigkeit.[2] Auf die Verschwörung reagierte das Patriziat rigoros. Nachdem die Verschwörung am 2. Juli verraten wurde, wurde den Hauptangeklagten nach längeren Verhören am 17. Juli der Prozess gemacht. Mitverschwörer wurden unter Hausarrest gestellt oder verbannt. Beim Prozess wurden Samuel Henzi, Emanuel Fueter und Niklaus Wernier von Alexander Ludwig von Wattenwyl verteidigt.[3] Der damals 35-jährige von Wattenwyl hielt als Pflichtverteidiger und vermeintlich zu Gunsten der Angeklagten eine Rede.[4]
Für diesen Essay wurde die Rede transkribiert und analysiert, damit die Rolle von Alexander Ludwig von Wattenwyl im Prozess zur «Henzi-Verschwörung» von 1749 in Bern genauer beleuchtet werden kann. Im Zentrum stehen dabei die Fragen, welche Argumente von Wattenwyl als Mitglied des Grossen Rates für die Angeklagten anführte, welche Ansicht er persönlich zum missglückten Umsturzversuch gehabt haben könnte und wie sich die Rolle als Pflichtverteidiger auf seinen politischen Werdegang auswirkte. Dazu wird seine Rede als Pflichtverteidiger analysiert, sein Werdegang vor und nach 1749 wiedergegeben und durch eine Analyse einer zweiten Rede ergänzt, welche von Wattenwyl 1765 schrieb.
Abbildung 1: Das Porträt von Alexander Ludwig von Wattenwyl, das um 1748 von einem unbekannten Künstler gemalt wurde, zeigt ihn in einer typischen Pose des 18. Jahrhunderts. Er trägt eine elegante Kleidung, die seinen hohen sozialen Status und seine Rolle als Politiker und Historiker unterstreicht. Sein Gesichtsausdruck ist ernst und nachdenklich, was seine intellektuelle Natur und seine Hingabe zur Geschichte und Politik widerspiegelt. Die feinen Details in seiner Kleidung und die sorgfältige Darstellung seiner Gesichtszüge deuten auf eine Person hin, die grossen Wert auf Präzision und Genauigkeit legt. Insgesamt vermittelt das Porträt ein Bild von Alexander Ludwig von Wattenwyl als einer respektierten und einflussreichen Persönlichkeit seiner Zeit.
Werdegang vor dem Prozess
Alexander Ludwig von Wattenwyl wurde am 18. Februar 1714 in Bern geboren.[5] Er war der Sohn von Franz Ludwig von Wattenwyl und Elisabeth Sara von Mestral, welche 1713 heirateten.[6] Seine Familie entstammt dem mitteralterlichen Adel, wobei Aufzeichnungen zum Geschlecht von Wattenwyl bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Den Familiennamen erhielten die von Wattenwyls durch das Dorf Wattenwil in der Nähe von Thun.[7] Bereits in jungen Jahren interessierte sich Alexander Ludwig von Wattenwyl für die deutsche Sprache und die Geschichte. Im Alter von neun Jahren begann er Auszüge aus dem Ortsarchiv von Landshut abzuschreiben, da sein Vater dort als Landvogt amtete. Auch begann er in seiner Jugend die Geschichte des Kantons Bern zu schreiben, notabene auf Latein.[8]
Er studierte ab 1731 zuerst in Genf und Lunéville, später auch in Paris, ehe er 1735 nach Bern zurückkehrte.[9] Ab 1739 pflegte Ludwig von Wattenwyl regen Briefkontakt mit dem in Zürich wohnhaften Gerichtsprofessor Johann Jakob Bodmer. Dabei äussert sich von Wattenwyl auch zu seinen Geschichtsforschungen und dass er weniger den Chronisten als viel mehr den Quellen und Urkunden selbst traute.[10] So glaubte er nicht, dass die Stadt Bern den Namen aufgrund einer Bärenjagd erhielt, sondern auf rechtsfreiem Boden gegründet wurde. Er sammelte unzählige Urkunden, bis er im Jahr 1747 bereits über 1'000 Schriftstücke beisammenhatte. Zur selben Zeit erwähnte er sein Vorhaben eine Gesellschaft für die Schweizer Geschichte zu gründen, um die Forschung zu koordinieren und zu sichern.[11] Dieses Vorhaben wurde jedoch nie in die Tat umgesetzt, jedenfalls lassen sich keine Hinweise darauf finden. Grössere Bekanntheit erlangte von Wattenwyl durch sein Werk «Histoire de la Confédération helvétique», worin er die Schweizer Geschichte bis zum Jahr 1603 beschreibt. Besonders relevant für die Stadt Bern war sein Werk «Histoire du gouvernement de Berne», welches er im Jahr 1740 begann und woran er bis zu seinem Lebensende arbeitete. Dato war dieses Werk die umfassendste und objektivste Rechtsgeschichte der Stadt Bern. Weitere Werke aus der Feder von von Wattenwyl sind «Histoire de la ville de Berne», «Histoire du Canton de Berne» und ein Aufsatz über «die Staatverfassung der Stadt und Republik Bern».[12]
1742 wurde er Hauptmann im Stadtregiment, 1745 zum Mitglied des Grossen Rates von Bern und 1747 zum Assessor am städtlischen Waisengericht.[13] Während seiner Zeit im Grossen Rat von Bern wurde ihm in amtlichem Auftrag 1749 die Pflichtverteidigung der drei Hauptangeklagten der «Henzi-Verschwörung» zugeteilt.[14]
Rede als Pflichtverteidiger
Am 16. Juli 1749 fällte der Grosse Rat in seiner Sitzung das Urteil gegen die drei Hauptangeklagten. Dabei stand bereits fest, dass Samuel Henzi, Niklaus Wernier und Emanuel Fueter hingerichtet würden. Am folgenden Tag findet der Prozess statt.[15] Dabei hielt Alexander Ludwig von Wattenwyl als Verteidiger der drei Hauptangeklagten seine Verteidigungsrede vor den Mitgliedern des Grossen Rates und etlichen Schaulustigen in der Nähe des heutigen Inselareals. In amtlichen Auftrag kam er seiner Rolle als Pflichtverteidiger nach und hielt in seiner Rede Fürsprache für die Angeklagten.[16] Anders als vielleicht vermutet, ging es beim Prozess am 17. Juli 1749 nicht um den Entscheid über Schuld oder Unschuld. Die drei Inquisiten waren zum Zeitpunkt des Prozesses bereits geständig, wie der Rede von Wattenwyls entnommen werden kann.[17] Entgegen der heutigen Vorstellungen der juristischen Praxis stand ebenfalls bereits fest, dass die Angeklagten nicht mit dem Leben davonkommen würden. Die Anhörung der Angeklagten, warum sie sich verleiten liessen an dieser Verschwörung mitzuwirken, diente der Entscheidung wie gelinde oder eben nicht die Hinrichtung werde. Anders, als die Rolle eines Verteidigers vermuten lässt, beschönigte von Wattenwyl die Taten keineswegs, sondern verurteilte diese ebenfalls aufs Schärfste in seiner Rede.[18]
Bereits zu Beginn seiner «Red und Vorbitt zu Gunsten meines gnädigen Herren Statt Lieut. Fueters, Marchand Weniers, und Herr Hauptmann Hentzi vor Grosse Radt und Burger» unterstreicht von Wattenwyl, dass er den Grossen Rat, welcher durch die Umsturzpläne schwer beleidigt worden ist, um Gnade bittet und auf ihren Grossmut hofft, weil es ihm vom selbigen befohlen wurde.[19] Dies kann auch als Legitimation und Rechtfertigung verstanden werden für die Verteidigung der schweren Vergehen.
In der Rede von Wattenwyls lassen sich drei Hauptthemen identifizieren: Erstens die Ursachen und Motivation der Angeklagten für ihre Taten, zweitens ihre freiwilligen Geständnisse, die Kooperation nach der Verhaftung sowie ihre Reue, drittens die Verurteilung der Taten, die klare Forderung diese zu bestrafen aber auch die häufig wiederholte Bitte nach Gnade und Vergebung für die Angeklagten und deren Angehörigen.
Die üble Wurzel des Komplotts ist laut von Wattenwyl eindeutig. Er erklärt, dass die Selbstliebe Quelle aller Tugend ist, aus ihr entspringt Ordnung und Gerechtigkeit. Ist diese jedoch nicht richtig «eingerichtet» entspringe aus ihr nur Neid und Ehrsucht, welche die Stimme des Gewissens sterben lässt.[20]
Dieser seien ebenfalls die Angeklagten verfallen, «Alle drey Zeitlichen Vermögens halbe in den üblesten umständen, alle drey von der Verdammten Ehrsucht bezauberet; alle drey in der betriegerischen einbeldung, daß sie zu etwas großer gebohren».[22] Wenige Seiten später erläutert von Wattenwyl diese «übelsten umständen» in welchen sich die Angeklagten befunden haben sollen. Dies tut er, weil, wie er sagt, die gnädigen Herren erwarten, «dass Ihnen Gründe für die Milterung ihrer Urtheil an die Hand gegeben werden».[23] Dafür lässt er die Angeklagten ‘selbst sprechen’ indem er Ausschnitte aus protokolierten Verhören vorliest. Er beginnt mit Emanuel Fueter, er sei ein «halb Desperater Mensch»[24] welcher in seinem Leben nicht vor sich sah ausser seiner Stelle als Lieutenant der Stadtwacht und die Ehrsucht liess ihn glauben, er sei zu mehr Glück gebohren. So sei er über Gabriel Fueter, sein Bruder den Verschwörern beigetreten.[25] Niklaus Wernier beruft sich in der Darstellung von Wattenwyls ebenfalls auf die betrübte Situation, in der er sich befunden habe. Er sei völlig ruiniert und habe ein grosses Unglück nach dem anderen ausgestanden, dies brachte ihn in die verzweifelte Lage, in der er sich durch Lieutnant Fueter der Verschwörung anschloss.[26] Zu guter Letzt wird auch verlesen, was Samuel Henzi als Grund angab, weshalb er sich verleiten liess und den Ideen der Verschwörer Gehör schenkte. Er habe lange Zeit, mit grösstem Fleiss als unterer Bibliothekar gearbeitet und gehofft, irgendwann den Posten als Bibliothekar zu erlangen.[27] Als die Stelle frei wurde, sei ihm jedoch ein jüngerer Kollege mit besseren Verbindungen zum Grossen Rat vorgezogen worden. Henzi erwähnte in der Darstellung von Wattenwyls ebenfalls, dass er einen namenhaften Schaden bei der Versteigerung seines Wohnhauses erlitt, den Verlust von 1’000 Talern.[28] Von Wattenwyl schliesst diese Argumentationsführung damit, dass durch das Verlesene die gnädigen Herren hören konnten «was die Ehrsucht und Desperation vermögen».[29]
Um die Verrücktheit und Unsinnigkeit der Ideen und Pläne der Verschwörer noch einmal zu unterstreichen, sagt von Wattenwyl, dass «die Gesammte Verschwöhrung sehe einem Verwirrten und narrischen Hirngespünste ähnlichen, als einer conspiration»[30]. Diese Aussage begründet er damit, dass die Verschwörer keine Hilfe von aussen hatten, nicht genügend Konsens untereinander, kein Geld, kein Ansehen und trotzdem meinten als ein paar gar verzweifelte Burger Unmögliches zu können.[31] Die Aussage ist klar, wenn die Angeklagten nicht jeglicher Vernunft beraubt gewesen wären oder sogar der Tollheit verfallen, wie hätten sie anders auf die Idee kommen können, die «Gelindeste Regierung» hätte gestürzt werden können.[32]
Ein weiteres Argument, welches herangezogen und gebeten wird, von den gnädigen Herren berücksichtigt zu werden, sind «die aufrichtige freywillige Geständniß».[33] Von Wattenwyl argumentiert weiter, die Verschwörer seien in Haft, geständen ihre Fehler, sie flehen um Erbarmen, bezeugen ihre Reue, sie decken alle Umstände ihres Anschlages auf und lassen keinen Missetäter im Verborgenen. Die Regierung soll keine einheimischen Feinde mehr haben.[34] Später in der Verteidigungsrede ergänzt von Wattenwyl, dass die Angeklagten in diesem Augenblick auf ihren Knien liegen, sie bitten Gott um die Vergebung ihrer Sünden und zählen auf die Barmherzigkeit der Ratsherren. Nicht um ihr Leben, denn sie wüssten wohl, dass dieses verwirkt sei, sondern um einen gelinden Tod. Ihr Leib sei verloren.[35]
Gegen Ende der Rede trägt von Wattenwyl die Bitte der Angeklagten vor, dass ihre hinterbliebenen Familien, welche an allem unschuldig seinen, mit ihrem Tod von jeglicher Schuld oder Verdacht zu befreien.[36] Die Familien wiederum bitten demütig um die Leichname ihrer unglücklichen Männer und Väter um sie in aller stille selbst bestatten zu können.[37] Die Rede und das Plädoyer wird zusammengefasst und beendet mit den Worten «Gnade in der Todes Strafe, Gnade gegen die Hinterlaßenen, Gnade gegen die Mitgethäter»[38]
Kritisch zu hinterfragen an von Wattenwyls Rede ist, dass er behauptete, die Angeklagten selbst «sprechen zu lassen», während er ihre festgehaltenen Aussagen aus verschiedenen Verhören verliesst.[39] Es ist fraglich, ob die drei Angeklagten dasselbe ausgesagt hätten, hätten sie wirklich selbst sprechen können. Ebenfalls ist nichts darüber bekannt, ob von Wattenwyl seine Verteidigungsstrategie und die Aussagen, die er machte, mit den Angeklagten abgesprochen hat bezüglich deren Einverständnis. Von Wattenwyl bittet mehrfach um Nachsicht und Gnade gegenüber den Angeklagten und deren Angehörigen. Trotzdem stellt sich die Frage, ob dies eine «faire» Verteidigung der Angeklagten war, gerade weil er selbst Mitglied des Grossen Rates von Bern war. In seiner Rede lobt er die Mitglieder des Grossen Rates von Bern immer wieder aufs Höchste und betont mehrmals deren Gütigkeit und Gnade.[40]
Werdegang nach dem Prozess
Seit 1745 und der Übernahme des Amtes im Grossen Rat, hielt Alexander Ludwig von Wattenwyl noch vier weitere Ämter inne, die nicht alle belegt sind. Von 1752 bis 1758 verwaltete von Wattenwyl die Langvogtei Nidau. Nach dieser Zeit gehörte er 1759 zu den Gründern der Ökonomischen Gesellschaft Bern und war in den Jahren 1767 und 1769 deren Präsident. Ab 1762 war von Wattenwyl zudem Mitglied der Bibliothekkommission und des Schulrates der Stadt Bern. Dabei veranlasste er die Verlegung von bis dahin geheim gehaltenen Chroniken in die Stadtbibliothek, damit diese der Öffentlichkeit zugänglich wurden. Hinzu kam 1763 die Mitgliedschaft in der helvetischen Gesellschaft, die er im Jahr 1766 präsidierte.[41] Ebenfalls ab 1762 war Alexander Ludwig von Wattenwyl Oberkommandant in der Propstei Moutier-Grandval. Diese militärische Position übernahm er von seinem Vater.[42]
Rede im Jahr 1765
Im Jahr 1765 verfasste von Wattenwyl eine Rede unter dem Titel «Rede eines Eidgenossen von der Glückseligkeit der Unterthanen unter einer freien Regierung». Diese Rede wurde später gedruckt und auf diesem Wege überliefert.[43] Aufgrund der Interessen während seiner Jugend und seiner Studien liegt es nahe, dass sich Alexander von Wattenwyl mit der Entwicklung von Städten und Staaten und den dabei entstandenen politischen Systemen befasste. Zudem war er selbst Mitglied des Grossen Rates von Bern und somit Teil eines regierenden politischen Systems. So kommt es, dass er in dieser Rede einige Aspekte in Bezug auf die Regierung und deren Einfluss auf die Untertanen aufgreift und dazu seine Ansichten äussert. Dabei lassen sich mögliche Ansichten von Alexander von Wattenwyl ablesen und auf die von ihm vorgebrachten Argumente in der Verteidigungsrede übertragen, um das Verständnis für diese zu schaffen.
Von Wattenwyl spricht in seiner Rede zu Beginn von der menschlichen Natur, die eine starke Ambivalenz aufweise. So beschreibt er die zwei Seiten, die der Mensch verkörpere und denen er sich selbst ebenfalls gegenübersieht. Der Mensch sei ein von Gott geschaffenes Wesen mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten wie dem Denken, der Vernunft und der Zielstrebigkeit. Menschen seien dazu gemacht, nach höheren Zielen zu streben und zu wachsen an den Herausforderungen, die sich stellen.
Gleichzeitig sei der Mensch nicht gefeit vor Schwäche, Bedürftigkeit und Vergänglichkeit. Durch äussere Einflüsse und innere Triebe gehe die Vernunft oft verloren und so entstünden Unruhen, die nichts Gutes verheissen.[44] Um diesen negativen Trieben entgegenzuwirken und die Vernunft zu stärken, brauchte es gemäss von Wattenwyl moralische Vorschriften für den Mensch. Damit sollen äussere wie auch innere Gegebenheiten reguliert und die nötige Orientierung geschaffen werden. Folglich führt von Wattenwyl aus, dass diese moralischen Vorschriften die Gesetze seien, an die sich die Bürger hielten. Die Gesetze seien den auch die Grundlage für einen geordneten und gerechten Staat und nicht nur von Menschen gemacht, sondern ursprünglich von Gott legitimiert. Alle Gesetze dienten der Förderung des Wohls des Menschen und der Gesellschaft.
Von Wattenwyl stellt klar, dass Gesetze nicht Einschränkung und Bevormundung seien, sondern gesellschaftliche und moralische Instrumente, die die Politik einsetzt, um die Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten. Durch die «moralische Arznei» werde den Menschen Freiheit gegeben und sie würden vor den Trieben und somit ebenfalls vor sich selbst geschützt.[45] Von Wattenwyl verweist danach auf die Wirksamkeit von Gesetzen, die nur erreicht werde, wenn weise und entschlossene Führungspersonen regieren. Er beschreibt den Staat mit einer Analogie zum menschlichen Körper, wobei die Regierung den Kopf darstelle und die Gesellschaft den Körper. Die Gesetze hielten die Gesellschaft am Leben und ein idealer Staat wird demnach durch die enge Verbindung von Gesetzen und einer klugen Regierung charakterisiert, die die Macht der Gesetze zur Entfaltung bringt und dabei das Gemeinwohl über persönliche Interessen stellt. Weiter geht von Wattenwyl in dieser Rede auf das damalige republikanische Staatenwesen sein, welches er im Vorteil gegenüber Monarchien und Despotien sieht. Bei zentralisierten Herrschaften werde nur dem Einzelnen bei Triumphen applaudiert und die Gesellschaft werde dabei in den Hintergrund gerückt. Es brauche Verfassungen, die auf Gleichheit und Gesetzmässigkeit beruhten, damit zum Wohle der Gesellschaft regiert werde und Herrscher nicht ihre persönlichen Interessen an erster Stelle verfolgen. Hierbei verweist er auch auf die Gewaltenteilung, damit sich Macht nicht konzentrieren könne. Zu grosse Machtkonzentrationen hätten bereits in der Vergangenheit dazu geführt, dass Staaten untergegangen seien. Dabei verweist von Wattenwyl auf die Römische Republik und lobt das System der Stadt Bern.[46]
Die Regierung basiere dabei auf Gerechtigkeit und Freiheit und werde von den Burgern treu unterstützt. Dabei erwähnt von Wattenwyl explizit den Grossen Rat von Bern mit seinen 200 Mitgliedern, welche das Herzstück der Regierung darstelle. Er bezeichnet die Mitglieder auch als «Väter», was klar unterstreicht, welchen Stellenwert der Grosse Rat für von Wattenwyl darstellt. Für ihn ist die Regierung der Stadt Bern alleiniger Garant für Sicherheit und Ordnung und ohne diese müssten die Burger in Angst und Elend leben. Von Wattenwyl schliesst mit Aussagen, in denen er nochmals auf die nötige Ordnung verweist, die nur mit einer gut aufgestellten Polizei aufrechterhalten werden könne. Er lobt sich dabei selbst, habe er doch Anstrengungen dazu unternommen, um genau diesen Aspekt voranzutreiben. Nur durch gerechte Gesetze und der Einigkeit innerhalb der Gesellschaft könne die Freiheit und Gerechtigkeit in Zukunft weiter bestehen.[47]
Diese Rede und besonders die Wortwahl und die verwendeten Analogien lassen sich durch die Tätigkeiten von Wattenwyls im Grossen Rat von Bern begründen, sind aber sicherlich ebenfalls durch seine Erziehung und seine Studien beeinflusst. Er wird klar, dass von Wattenwyl durch und durch Staatsmann war und das Handwerk der damaligen Politik verstand. Zudem lassen sich durch seine in dieser Rede geäusserten Ansichten gewisse Schlüsse ziehen, weshalb von Wattenwyl im Jahr 1749 als Pflichtverteidiger der Hauptangeklagten beauftragt wurde. Die involvierten Mitglieder des Grossen Rates mussten wohl früh gemerkt haben, dass von Wattenwyl dem politischen System der Stadt Bern treu ergeben ist und dieses verteidigen würde, wenn eine Bedrohung bevorsteht. Ferner hatte er bereits vor dem Grossen Rat Erfahrungen in der rechtlichen Praxis gemacht. So war es für den Grossen Rat ein leichtes, von Wattenwyl als Pflichtverteidiger einzusetzen und eine Rede schreiben zu lassen.
Hier soll angemerkt werden, dass die zwei analysierten Reden weniger als 10 Jahre auseinander liegen. Jedoch kann davon ausgegangen werden, dass sich die Einstellungen und Ansichten von Alexander von Wattenwyl in Bezug auf Politik und Gesellschaft in dieser Zeit nicht merklich verändert haben. Die Chancen sind hoch, dass sich seine Ansichten von 1749 bis ins Jahr 1765 nur noch verstärkt haben und in dieser Rede zum Ausdruck kamen.
Fazit
Abschliessend kann festgehalten werden, dass Alexander von Wattenwyl das Amt des Pflichtverteidigers nicht auswählte, sondern vom Grossen Rat als amtlichen Auftrag erhielt.[48] Seine Argumente, welche er beim öffentlichen Prozess gegen die drei Hauptangeklagten der «Henzi-Verschwörung» zu deren Verteidigung vorbrachte, können nicht als Verteidigung gedeutet werden. In erster Linie ersucht von Wattenwyl die Obrigkeit um Gnade, um kurz darauf die klare Schuld der Angeklagten einzuräumen und deren Taten als deren Pflichtverteidiger zu verurteilen.[49] Basierend darauf ist anzunehmen, dass sich von Wattenwyl selbst gegen den Umsturzversuch ausgesprochen hatte. Bestärkt wird diese These, wenn die Ausführung in seiner Rede aus dem Jahr 1765 beachtet werden. Dort sieht er die republikanische Regierung der Stadt Bern und den Grossen Rat als die Höchste aller Regierungsformen und lobt die Freiheit und Sicherheit der Berner Burger.[50] So scheint es auf der Hand zu liegen, dass Alexander von Wattenwyl wohl nie Reformen des politischen Systems angestossen hätte oder gar als Unterstützer der «Henzi-Verschwörung» aufgetreten wäre, hätten es im Vorhinein Kontakt zu den Verschwörern gegeben.
In Bezug auf den Werdegang von Alexander Ludwig von Wattenwyl scheint die Rolle als Pflichtverteidiger weder einen negativen noch einen positiven Einfluss gehabt zu haben. Er wurde als Sohn eines Burgers und einer aus dem Adel abstammenden Familie privilegiert erzogen und geschult. Er nutzte seine gesellschaftliche Stellung, um die historische Forschung zur Stadt Bern, zum Kanton Bern und zur Eidgenossenschaft und somit zur Schweiz voranzutreiben. Nach der «Henzi-Verschwörung» verblieb von Wattenwyl einige Jahrzehnte in der Politik und der Geschichtsforschung und übernahm gegen sein Lebensende das militärische Amt seines Vaters.[51] Alexander Ludwig von Wattenwyl verstarb am 2. November 1780 in Bern.[52]
Heute gilt Alexander Ludwig von Wattenwyl als der erste moderne Geschichtsschreiber der Stadt Bern. Er hinterliess einige spannende Schriften und Dokumentationen, welche bis heute von Relevanz sind.
Abbildung 2: Die Darstellung zeigt eine Szene aus dem Prozess der «Henzi-Verschwörung», die im Jahr 1749 in Bern stattfand. Zu sehen sind die Hauptangeklagten, umgeben von einer aufmerksamen Menge. Diese Verschwörung war ein entscheidender Moment in der politischen Geschichte Berns, da sie die tiefen sozialen Spannungen zwischen dem Patriziat und der breiten Bevölkerung widerspiegelte. Die Hinrichtung der Hauptangeklagten verdeutlicht die repressiven Haltungen der Berner Obrigkeit, das den versuchten Umsturz mit brutaler Gewalt beantwortete. Es ist anzunehmen, dass auch Alexander Ludwig von Wattenwyl auf der Darstellung zu sehen ist.
Nachweise
1. Dubler: Henzi-Verschwörung, S.
2. Würgler: Bitten und aufbegehren, S. 441 – 444.
3. Dubler: Henzi-Verschwörung, S.
4. Marti-Weissenbach: Alexander Ludwig von Wattenwyl, S.
5. Ebd.
6. Watteville: Genealogie der Familie von Wattenwyl, TAFEL X A.
7. Ebd. Vorbericht.
8. Tobler: Die Chronisten und Geschichtschreiber des alten Bern, S. 75.
9. Watteville: Genealogie der Familie von Wattenwyl, TAFEL X A.
10. Tobler: Die Chronisten und Geschichtschreiber des alten Bern, S. 75 – 76.
11. Ebd. S. 76.
12. Ebd. S. 76 – 77.
13. Watteville: Genealogie der Familie von Wattenwyl, TAFEL X A.
14. Historischer Verein des Kantons Bern: Sammlung bernischer Biographien, S. 476.
15. Bern, Stadt und Republik: Manifest Ansehend Die im Julio 1749. in der Statt Bern Entdeckte Conspiration., S. 14 – 16.
16. Historischer Verein des Kantons Bern: Sammlung bernischer Biographien, S. 476; Wattenwyl: Red und Vorbitt zu Gunsten meines gnädigen Herren Statt Lieut. Fueters, Marchand Werniers, und Herr Hauptmann Hentzi Vor Grosse Radt und Burger.
17. Wattenwyl: Red und Vorbitt, S. 16.
18. Ebd. S. 2 - 4.
19. Ebd. S. 2 - 3.
20. Ebd. S. 5.
21. Ebd.
22. Ebd. S. 6.
23. Ebd. S. 8.
24. Ebd.
25. Ebd. S. 9.
26. Ebd. S. 10 – 12.
27. Ebd. S. 12.
28. Ebd. S. 13.
29. Ebd. S. 13.
30. Ebd. S. 14.
31. Ebd.
32. Ebd.
33. Ebd. S. 16.
34. Ebd.
35. Ebd. S. 18.
36. Ebd. S. 18-19.
37. Ebd. S. 19.
38. Ebd. S. 20.
39. Ebd. S. 5 – 8.
40. Ebd. S 15, 17, 18.
41. Tobler: Die Chronisten und Geschichtschreiber des alten Bern, S. 75.
42. Watteville: Genealogie der Familie von Wattenwyl, TAFEL X A.
43. Wattenwyl: Rede eines Eidgenossen, S.
44. Wattenwyl: Rede eines Eidgenossen, S. 2 – 4.
45. Ebd, S. 4 – 10.
46. Wattenwyl: Rede eines Eidgenossen, S. 9 – 23.
47. Ebd.
48. Historischer Verein des Kantons Bern: Sammlung bernischer Biographien, S. 476.
49. Wattenwyl: Red und Vorbitt, S. 2 – 8.
50. Wattenwyl: Rede eines Eidgenossen, S. 4 – 23.
51. Watteville: Genealogie der Familie von Wattenwyl, TAFEL X A; Tobler: Die Chronisten und Geschichtschreiber des alten Bern, S. 75 – 77.
52. Marti-Weissenbach: Alexander Ludwig von Wattenwyl.
Quellenverzeichnis
- Bern, Stadt und Republik: Manifest Ansehend Die im Julio 1749. in der Statt Bern Entdeckte Conspiration. Bern 1749.
- Bern, Stadt und Republik: Manual Ansehend die im Julio 1749. in der Statt Bern entdeckte Conspiration. Bern 1749. Staatsarchiv Kanton Bern, StAB BI 3.
- Mülinen, Niklaus Friedrich von: Berner Burgerbuch. Bern 1782. Burgerbibliothek, Mss.Mül.244.2.
- Wattenwyl, Alexander Ludwig von: Red und Vorbitt zu Gunsten meines gnädigen Herren Statt Lieut. Fueters, Marchand Werniers, und Herr Hauptmann Hentzi Vor Grosse Radt und Burger. Bern 1749. Burgerbibliothek, Mss.h.h.XLII.27.
- Wattenwyl, Alexander Ludwig von: Rede eines Eidgenossen von der Glükseligkeit der Unterthanen unter einer freien Regierung. Bern 1765. Bibliothek Münstergasse, MUE Laut 301:1.
Literaturverzeichnis
- Historischer Verein des Kantons Bern: Sammlung bernischer Biographien. Bern 1884 – 1944. Bibliothek Münstergasse, MUE H XXXV 182.
- Tobler, Gustav: Die Chronisten und Geschichtschreiber des alten Bern, in: Festschrift zur VII. Säkularfeier der Gründung Berns, 1191 – 1891. Bern 1891. Bibliothek Unitobler, HIS Y 378.
- Watteville, Beat de: Genealogie der Familie von Wattenwyl. Genève 2000/2005. Burgerbibliothek.
- Würgler, Andreas: Bitten und aufbegehren: Proteste wider die Obrigkeit, in: Holenstein, André (Hg.): Berns goldene Zeit: Das 18. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2008, S. 441 – 444.
- Internet
- Dubler, Anne-Marie: Henzi-Verschwörung. Historisches Lexikon der Schweiz HLS, 30. August 2006, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017206/2006-08-30/, Stand: 6. Dezember 2024.
- Marti-Weissenbach, Karin: Alexander Ludwig von Wattenwyl. Historisches Lexikon der Schweiz HLS, 3. Februar 2015, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025806/2015-02-03/, Stand: 6. Dezember 2024.
Abbildungsverzeichnis
- Abbildung 1:Porträt: Wattenwyl, Alexander Ludwig von (1714-1780), Burgerbibliothek, M.171.
- Abbildung 2: Henzi-Verschwörung 1749. Burgerbibliothek, Burgerbibliothek, Mss.h.h.XIV.70 (17).