Lukas Heinzmann und Martin Stuber | Publiziert am 22. Juli 2025.
Hallers 9'000 Rezensionen – Digital History als explorativer Zugang
Das Zeitalter der Aufklärung markiert in der Geschichte des Wissens eine vielschichtige Übergangsphase: Die Gelehrtenrepublik der Frühen Neuzeit begann sich zur Scientific Community der Moderne zu entwickeln. Im Zentrum dieser Transformation standen die Orientierung am gesellschaftlichen Fortschritt und die zunehmende Ausdifferenzierung in spezialisierte Fachdisziplinen. Besonders die «Ökonomische Aufklärung» brachte praxiserprobte Wissensbestände hervor, mit dem Ziel, natürliche und kulturelle Ressourcen effizienter nutzbar zu machen. Dabei stimulierte sie die Nachfrage nach spezialisierten botanischen, chemischen und geologischen Grundlagen (Popplow 2010).
Inspiration aus der Wissensgeschichte
Diese dynamische Wissenslandschaft untersuchten wir im Seminar «Akteure und Praktiken des Wissens im Zeitalter der Aufklärung – Digital History als explorativer Zugang» (FS 2025) am Historischen Institut der Universität Bern, aus dem die folgenden Beiträge hervorgegangen sind. Dabei werden zwei Methoden kombiniert: Zum einen die Digital History, die weiter unten zur Sprache kommt, und zum anderen neuere Ansätze der Wissensgeschichte:
- Wissenschaft wird nicht als autonomer Raum isolierter Ideen oder genialer Geistesblitze verstanden, sondern eingebettet in konkrete soziale und kulturelle Kontexte.
- Wissenschaft befindet sich zu administrativen, praktischen oder traditionellen Wissensbeständen nicht in einem hierarchischen, sondern in einem prinzipiell gleichwertigen Verhältnis.
- Im Zentrum stehen weniger Begriffe, Paradigmen oder Ideen, sondern Akteure, Diskurse, Objekte, Orte und Praktiken. Das Erkenntnisinteresse verschiebt sich damit vom fertigen Wissen auf den Prozess seiner Konstruktion.
- Der universalistische Anspruch von Wissenschaft wird hinterfragt – mit Blick auf Herkunft und Verortung. Wissenszirkulation ersetzt das Bild einer linearen Diffusion und rückt Verflechtungen, auch mit aussereuropäischen Wissensbeständen, in den Fokus (Füssel 2011).
Ein Rezensent muss die Geschichte seiner Kunst kennen
Empirische Grundlage bildet ein Quellenkorpus von grosser inhaltlicher Vielfalt und räumlicher Reichweite: die über 9'000 Rezensionen, die der Berner Universalgelehrte Albrecht von Haller zwischen 1745 und 1778 in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen1↱ veröffentlichte. Sämtliche Rezensionen sind auf der Daten- und Editionsplattform hallerNet/République des Lettres in edierter Form greifbar, wobei die Verfassenden der rezensierten Publikationen identifiziert, kuratiert und angereichert mit Analysekategorien zum sozialen Milieu, Ausbildungsstand und Wirkungsort vorliegen.2↱
Haller wirkte 1736 bis 1753 als Professor für Anatomie, Botanik und Chirurgie an der Reformuniversität Göttingen, wo er sich zu einem Wissenschaftler von europäischem Rang entwickelte (Steinke/Boschung/Pross 2008). Neben seinen wegweisenden Arbeiten zur experimentellen Physiologie und dem Aufbau eines der artenreichsten Botanischen Gärten Europas manifestiert sich Hallers herausragende Stellung nicht zuletzt in der von ihm vorangetriebenen Entwicklung der Göttingischen Gelehrten Anzeigen zur führenden deutschsprachigen Rezensionszeitschrift mit internationaler Reichweite. In seiner vielzitierten Vorrede von 1747 formulierte Haller die Anforderungen an eine ernstzunehmende Besprechung mit eindrucksvoller Klarheit. Ein Rezensent, so Haller, müsse nicht nur die «Geschichte seiner Kunst» kennen, sondern auch fähig sein, zwischen alt, neu, glaubwürdig und unwahrscheinlich zu differenzieren. Nur so lasse sich der «Werth der Dinge» fundiert beurteilen (GGA 1747, Vorrede).
Thematische Breite - heterogener Forschungsstand
Zu den Göttingischen Gelehrten Anzeigen existiert eine vielfältige, aber heterogene Forschung. Vergleichsweise gut untersucht sind die institutionellen Zusammenhänge zwischen der Rezensionszeitschrift, der Universitätsbibliothek und der Sozietät der Wissenschaften in Göttingen (Eck 2009, Roethe 1901), ebenso wie Hallers materielle Interessen in Form der finanziellen Entschädigungen für seine intensive Tätigkeit für die Göttingischen Gelehrten Anzeigen (Saada 2013). Neue wissensgeschichtliche Forschungsfelder zeichnen sich ab, indem Hallers Rezensionsarbeit als Kombination gelehrter Praktiken wie «Exzerpieren» oder «Positionieren» minutiös rekonstruiert wird (Gantet 2020, Gantet/Krämer 2021, Gantet 2025).
Inhaltlich decken Hallers Rezensionen eine bemerkenswerte Bandbreite ab. Zwar verstand sich der Forscher Haller durchaus als Vertreter disziplinärer Spezialisierung, als Rezensent bewegte er sich aber thematisch in einem weiten Feld. Umfassend untersucht sind bislang erst seine literarischen Besprechungen (Profos Frick 2009). Wissensgeschichtlich weiterführende Ansätze eröffnen erste Analysen seiner Rezensionen von Reiseberichten (Guthke 2014, Stuber 2018) sowie von Bereichen, die Haller in seiner Tätigkeit als Magistrat und/oder im Rahmen der von ihm präsidierten Oekonomischen Gesellschaft Bern direkt betreffen (Kolb/Stuber 2019). Ein Sammelband mit thematischen Vertiefungen ist in Vorbereitung, wo neben eher literaturwissenschaftlichen Studien zu Stil, Emotionen und Konflikten insbesondere auch Fragen der disziplinären Spezialisierung in Medizin und Botanik sowie deren Bezüge zu den Umsetzungsbereichen wie Viehseuchenpolizei, Getreidepolitik und Forstwirtschaft analysiert werden (Stuber/Metz/Steinke in Vorbereitung).
Close und Distant Reading
Zahlreiche Themenfelder sind bislang nur unzureichend erforscht. Die folgenden Beiträge knüpfen hier an und nutzen Methoden der Digital History, die als geschichtswissenschaftliche Adaption von Konzepten und Werkzeugen der Digital Humanities verstanden werden kann. Trotz disziplinärer Unterschiede hinsichtlich der zugrundeliegenden Quellen und der Erkenntnisinteressen sind digitale Instrumente und Ansätze häufig bereichsübergreifend einsetzbar. Besonders für die systematische Exploration und Analyse grosser Textmengen erweist sich eine Kombination aus Close und Distant Reading3↱ als fruchtbar. Qualitative und quantitative Verfahren werden dabei miteinander verknüpft, wobei sich der Forschungsprozess durch ein iteratives Herantasten an das Material auszeichnet. Unterstützt wird dieses Vorgehen durch den gezielten, reflektierten Einsatz digitaler Werkzeuge, die je nach Thema und gewähltem Ansatz neue Perspektiven eröffnen und vielfältige Interaktionsmöglichkeiten bieten.
Textanalyse-Tools
In den folgenden Beiträgen wird dieses methodische Vorgehen exemplarisch umgesetzt. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Plattform hallerNet/République des Lettres: Sie ermöglicht die systematische Recherche der 9’878 Rezensionen über Volltextsuche, Strukturdatenfilter sowie verknüpfte Referenzen zu Publikationen, Personen, Orten usw. Für das Close Reading besonders hilfreich ist zudem die synoptische Darstellung von Rezensionstext und Scan. Für die weitere Arbeit kommen die Textanalysetools AntConc und Voyant Tools4↱ zum Einsatz. Mit ihnen lassen sich Schreibvarianten gezielt identifizieren, relevante Textstellen über Stichworte aufspüren und diskursive Felder rund um ausgewählte Begriffe erschliessen. Darüber hinaus erlauben sie quantitative Auswertungen zu Häufigkeiten und Entwicklungstendenzen in zeitlicher wie räumlicher Perspektive.
Während sich AntConc und Voyant Tools besonders für ein exploratives Arbeiten mit dem Korpus eignen, bleiben ihre Möglichkeiten zur Weiterverarbeitung und individuellen Anpassung der Analyse begrenzt. Um diese Einschränkungen zu überbrücken und weiterführende Auswertungen zu ermöglichen, greifen die Beiträge ergänzend auf Excel zurück. Dessen Funktionen erlauben eine flexible Organisation der Texte, die in Kombination mit den umfangreichen Strukturdaten zu den Rezensionen, den rezensierten Publikationen und deren Verfassenden ausgewertet werden. Auf Grundlage der zuvor gewonnenen Einsichten werden themenspezifische Samples gebildet und anschliessend quantitativ analysiert. So lassen sich charakteristische Tendenzen innerhalb des eingegrenzten Materials identifizieren, die wiederum als Ausgangspunkt für eine vertiefte Analyse im Close Reading dienen können.
Die hier skizzierte Vorgehensweise entspricht keinem linearen Prozess, sondern beschreibt vielmehr einen flexiblen Rahmen, innerhalb dessen die genannten Ansätze und Werkzeuge beliebig kombiniert und iterativ angewendet werden können. Für die zielführende Gestaltung des Analyseprozesses und die angemessene Einordnung der Ergebnisse sind sowohl ein gezielt eingesetztes Close Reading als auch fundierte Kenntnisse der einschlägigen Forschungsliteratur entscheidend. Die kritische Reflexion des methodischen Vorgehens und die forschungsorientierte Kontextualisierung der Resultate bilden daher auch einen wichtigen Bestandteil der Beiträge. Darüber hinaus zeigen sie weiterführende Forschungspotenziale auf und eröffnen Perspektiven für eine vertiefte Auseinandersetzung mit spezifischen Forschungsfragen.
1 ↑ 1739-1752 als Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen; 1753-1801 als Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen; 1802 bis heute als Göttingische Gelehrte Anzeigen; im Folgenden zitiert als GGA; Hallers Handexemplar, das wegen seinen handschriftlichen Bemerkungen für die Zuordnung der anonym erschienenen Rezensionen grundlegend ist, liegt in der Universitätsbibliothek Bern (Zentrum historische Bestände).
2 ↑ Die Erarbeitung der Edition wurde vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert: Online-Edition der Rezensionen und Briefe Albrecht von Hallers: Expertise und Kommunikation in der entstehenden Scientific Community (SNF 198247, 2018-2023), Gesuchstellende: Christophe v. Werdt (Albrecht von Haller-Stiftung der Burgergemeinde Bern), André Holenstein (Historisches Institut Univ. Bern), Hubert Steinke (Institut für Medizingeschichte Univ. Bern), Oliver Lubrich (Institut für Germanistik Univ. Bern), Claudia Engler (Burgerbibliothek Bern); Leitung: Martin Stuber/Bernhard Metz.
3 ↑ Der Begriff Distant Reading bezeichnet einen Ansatz, bei dem computergestützte Verfahren auf grosse Textmengen angewandt werden, ohne dass diese im herkömmlichen Sinn gelesen werden. Geprägt wurde er insbesondere von Franco Moretti als Gegenmodell zum Close Reading, der detaillierten Lektüre von Texten (Moretti 2013).
4 ↑ AntConc und Voyant Tools sind digitale Werkzeuge zur Textanalyse, die vor allem in den Geisteswissenschaften eingesetzt werden. Während AntConc detaillierte Analysen auf Wort- und Phrasenebene erlaubt, legt Voyant Tools den Schwerpunkt stärker auf visuelle und explorative Formen der Textanalyse, wofür zahlreiche interaktive Visualisierungen zur Auswahl stehen.
Leitung und Kontakt: Lukas Heinzmann, Martin Stuber
Quellenverzeichnis
- Albrecht von Haller, Vorrede GGA zum Jahrgang 1747, Digitale Edition der Rezensionen Albrecht von Hallers, hallerNet 2018-2023, https://hallernet.org/edition/review/07417.
Literaturverzeichnis
- Eck, Raimer: Das magische Dreieck. Gelehrte Zeitung, Bibliothek und Societät, in: Elsner, Norbert; Rupke, Nicolaas A. (Hg.): Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung. Göttingen 2009, S. 167-182.
- Füssel, Marian: Wissensgeschichten der Frühen Neuzeit. Begriffe – Themen – Probleme, in: Ders. (Hg.), Wissensgeschichte. Basistexte, Stuttgart 2019, S. 7-39.
- Gantet, Claire: Der Grossrezensent Albrecht von Haller. Hallers Exzerpte und Rezensionen in den Jahren 1745 bis 1747, in: Löffler, Katrin (Hg.): Gelehrte Journale, Debatten und der Buchhandel der Aufklärung, Stuttgart 2020, S. 45-60.
- Gantet, Claire; Krämer, Fabian: Wie man mehr als 9000 Rezensionen schreiben kann. Lesen und Rezensieren in der Zeit Albrecht von Hallers, in: Historische Zeitschrift, 312/2 (2021), S. 364-399.
- Gantet, Claire: Albrecht von Haller’s Self-Reviews and Style of Reasoning, in: Sgarbi, Marco (ed.): Philosophical Reviews in German Territories (1668-1799), vol. 1, Firenze 2025, S. 33-56, DOI 10.36253/979-12-215-0573-3.
- Guthke, Karl S.: At Home in the World: The Savant in the Service of Global Education, in: Holenstein, André; Steinke, Hubert; Stuber, Martin (eds.): Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century. 2 vols. (History of Science and Medicine Library), Leiden/Boston 2013, Bd. 2, S. 569-590.
- Holenstein, André; Steinke, Hubert; Stuber, Martin (eds.): Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century. 2 vols. (History of Science and Medicine Library), Leiden/Boston 2013.
- Kolb, Lisa; Stuber, Martin: Albrecht von Haller et le sel solaire. Réflexions sur les transferts savants dans les lumières économiques, in: Gantet, Claire; Meumann, Markus (éds.): Transferts, circulations et réseaux savants franco-allemands au XVIIIe siècle, Rennes 2019, S. 57–81.
- Lipphardt, Veronika; Ludwig, David: Wissens- und Wissenschaftstransfer, in: Leibniz-Institut für europäische Geschichte (IEG) (Hg.): Europäische Geschichte online (EGO), Mainz 2011, https://www.ieg-ego.eu/lipphardtv-ludwigd-2011-de.
- Moretti, Franco: Distant Reading, London 2013.
- Popplow, Marcus: Die Oekonomische Aufklärung als Innovationskultur des 18. Jahrhunderts zur optimierten Nutzung natürlicher Ressourcen, in: Popplow, Marcus (Hg.): Landschaften agrarisch-ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, München 2010, S. 3-48.
- Profos Frick, Claudia: Gelehrte Kritik. Albrecht von Hallers literarisch-wissenschaftliche Rezensionen in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen, Basel 2009.
- Roethe, Gustav: Göttingische Zeitungen von gelehrten Sachen, in: Festschrift zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen: Beiträge zur Gelehrtengeschichte Göttingens, Berlin 1901, S. 569–688.
- Saada, Anne: Albrecht von Haller’s Contribution to the Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen: The Accounting Records, in: Holenstein, André; Steinke, Hubert; Stuber, Martin (eds.): Scholars in Action. The Practice of Knowledge and the Figure of the Savant in the 18th Century. 2 vols. (History of Science and Medicine Library), Leiden/Boston 2013, S. 319–338.
- Steinke, Hubert; Boschung, Urs; Pross, Wolfgang (Hg.): Albrecht von Haller. Leben, Werk, Epoche, Göttingen 2008.
- Steinke, Hubert: Albrecht von Haller, patron dans son réseau. Le rôle de la correspondance dans les controverses scientifiques, in: Revue d'histoire des sciences, 66/2 (2013), S. 325–359.
- Stuber, Martin; Hächler, Stefan; Lienhard, Luc (Hg.): Hallers Netz. Ein Gelehrtenbriefwechsel zur Zeit der Aufklärung, Basel 2005, 117-125.
- Stuber, Martin: Vom Simmental bis Spitzbergen. Albrecht von Haller als europäischer Vermittler regionaler Kultur und Ökonomie, in: Eibach, Joachim; Opitz-Belakhal, Claudia (Hg.): Zwischen den Kulturen. Mittler und Grenzgänger, Hannover 2018, S. 165–189.
- Stuber, Martin; Metz, Bernhard; Steinke, Hubert (Hg.): Korrespondenz und Kritik. Albrecht von Haller als paradigmatische Figur im Übergang von der Gelehrtenrepublik zur Scientific Community (in Vorbereitung).
Bildnachweis
- Abb. 2: Göttingische Gelehrte Anzeigen, Jahrgang 1747. Universitätsbibliothek Bern, Bibliothek Münstergasse: J.L.XIII.3 (Handexemplar Abrecht von Haller).


