Group 6: Virtual Exhibition

SiM 2.0

 

Schaffhausen im Mittelalter 2.0

«Schaffhausen im Mittelalter» 

The Rhyality Immersive Art Hall brings centuries-old illuminated manuscripts to life in Schaffhausen in the Middle Ages, reimagining lost worlds through moving images and sound. In this 60-minute animated 360° show, the audience embarks on a captivating journey through three centuries of Schaffhausen’s urban history. Panoramas assembled from thousands of pages of medieval illuminated manuscripts recreate the medieval cityscape, while professionally animated characters—voiced by actors—bring these scenes vividly to life. This unique production combines the visual power of original source material with cutting-edge technology to create a deeply immersive experience of history.


Die Rhyality immersive Art Hall haucht mit «Schaffhausen im Mittelalter» jahrhundertealten Buchmalereien Leben ein und lässt vergangene Welten neu entstehen. In der rund 60-minütigen animierten 360°-Show begibt sich das Publikum auf eine faszinierende Zeitreise durch drei Jahrhunderte Schaffhauser Stadtgeschichte. Aus tausenden Seiten mittelalterlicher Prachthandschriften zusammengesetzte Panoramen stellen das mittelalterliche Schaffhausen nach, professionell animierte und von Schauspielern und Schauspielerinnen eingesprochene Figuren füllen sie mit Leben. Die einzigartige Inszenierung verbindet so den Reiz des Originalmaterials mit den Möglichkeiten modernster Technik und soll Eintauchen in die Geschichte ermöglichen. 

Thorough research, source-based storytelling, and historically accurate reconstructions of medieval Schaffhausen are at the heart of this project. All events depicted in the show are directly grounded in historical sources. Their vivid staging makes history more accessible than ink on paper ever could. The aim is to bring the reality of past times as close to the audience as scientific principles allow. Visitors witness the humble beginnings of Schaffhausen, are present when a real pope consecrates the Abbey of Allerheiligen in 1049, and immerse themselves in the vibrant life of a bustling late medieval trading town.

Schaffhausen in the Middle Ages explores new forms of historical storytelling. By transforming historical imagery into a 360° audiovisual experience, the production breaks away from the usual frontality of school lessons, textbooks, and traditional museum panels. The immersive environment stimulates all the senses and invites audiences on a journey through medieval imagery and imagination. Theatrical reenactments of historical sources—through dialogue and dramatized action—amplify this effect. Content is not simply presented but must be actively interpreted through attentive listening and reflection. In doing so, the audience is drawn into the hermeneutic circle—the dynamic interplay between historical context and individual event.

 

Fundierte Recherche, quellennahe Erzählung und originalgetreue Rekonstruktion des historischen Schaffhausens stehen dabei stets im Mittelpunkt. Die erzählten Ereignisse basieren unmittelbar auf den historischen Quellen. Ihre lebendige Inszenierung macht Geschichte zugänglicher als es trockene Tinte je könnte. Den Besucher*innen soll so die Wirklichkeit vergangener Zeiten so nah gebracht werden, wie es nach wissenschaftlichen Grundsätzen nur irgend möglich ist. Das Publikum erlebt die bescheidenen Anfänge Schaffhausens, ist Zeuge, wenn im Jahr 1049 ein leibhaftiger Papst das Kloster Allerheiligen weiht, und taucht ein in das geschäftige Treiben der spätmittelalterlichen Handelsstadt. 

Schaffhausen im Mittelalter versucht sich dabei an neuen Formen der Geschichtsvermittlung. Durch die 360°-Umsetzung des historischen Bildmaterials soll die übliche Frontalität schulischen Unterrichts, traditioneller Lehrbücher sowie klassischer Museumsinfotafeln buchstäblich aufgelöst werden. Die immersive Umgebung und die audiovisuelle Umsetzung sprechen alle Sinne des Publikums an und laden auf Entdeckungsreise in mittelalterliche Bild und Vorstellungswelten ein. Die theatrale Inszenierung der Quellen in Form von Dialogen und Handlungsabläufen soll diesen Effekt verstärken. Inhalte werden nicht einfach präsentiert, sie müssen durch aufmerksames und aktives Zuhören erschlossen werden. Das Publikum wird so auf den Weg durch den hermeneutischen Zirkel, dem Wechselspiel zwischen Kontext und Ereignis, mitgenommen.

The historical context is presented by our host and guide through time: Johann Jakob Rüeger, the renowned humanist and chronicler of Schaffhausen. As a timeless figure, he introduces the broader historical framework and conveys essential background knowledge—ranging from the Medieval Climate Optimum and the salt trade to the tripartite social order, feudal structures, and the so-called feudal revolution.

Set against this context are the dramatized historical sources—such as a documented exchange of property used to retroactively resolve a violation of ownership during the construction of the Abbey of Allerheiligen (see below).

Only when these reenacted sources are actively interpreted within the presented historical framework does the full meaning of Schaffhausen in the Middle Ages unfold. It is through this interplay of contextualization and source interpretation that a consciously constructed historical experience emerges.

 

Den Kontext präsentiert unser Gastgeber und Führer durch die Zeiten, der grosse Schaffhauser Humanist und Chronist Johann Jakob Rüeger.  Als überzeitliche Person führt er in die historischen Rahmenbedingungen ein und vermittelt grundlegendes Wissen – etwa vom mittelalterlichen Klimaoptimum, dem Salzhandel, der tripartiten Gesellschaftsordnung, dem Lehenswesen oder der feudalen Revolution. Demgegenüber stehen die inszenierten Quellen – etwa ein urkundlich überlieferter Gütertausch, mit dem eine Eigentumsverletzung während des Baus des Klosters Allerheiligen nachträglich bereinigt wurde (siehe unten). Erst durch die eigenständige Einordnung der inszenierten Quellen in den präsentierten historischen Kontext erschliesst sich dem Publikum der volle Bedeutungsgehalt von «Schaffhausen im Mittelalter». So entsteht aus dem Zusammenspiel von Kontextvermittlung und Quelleninterpretation ein aktiv konstruiertes Geschichtserlebnis. 

With the form of presentation, the thematic focus shifts as well. Naturally, a history of Schaffhausen cannot be told without the founding of the Abbey of Allerheiligen, the work of Count Eberhard of Nellenburg in the 11th century, or the introduction of the guild constitution in 1411. However, the theatrical staging and the emotionally charged performances of our actors place the history of mentalities almost automatically at the center.

The audience encounters people from long-gone eras and from all walks of life, gaining insight into their fears and hardships, hopes and desires. How did people think? How did they view their world and locate themselves within it? These are the questions that guide us through the centuries. Answers to such questions are often difficult to convey in traditional documentaries or museums—but here, they can be experienced.

What remains constant is the enduring appeal of the original medieval manuscript illustrations. Our work brings them out of archival obscurity and presents them to a broad public in an engaging and accessible way.

When it comes to content design, authenticity and attention to detail have always been paramount.
Wherever the medieval source material and the spatial constraints of the immersive hall allowed, architectural and topographical features were reconstructed in line with archaeological and architectural findings. The dialogues are rich with allusions to sources, events, and historical contexts—there is hardly a scene, barely an exchange of words, that doesn’t hint at something deeper. Those who immerse themselves in the content and engage with it will discover countless entry points for further exploration.

 

Mit der Form der Vermittlung verschieben sich auch die thematischen Schwerpunkte. Natürlich erzählt sich eine Geschichte Schaffhausens nicht ohne die Gründung Allerheiligens, das Wirken Graf Eberhards von Nellenburg im 11. Jahrhundert oder die Einführung der Zunftverfassung 1411. Aber die theatrale Inszenierung und die emotionsgeladene Interpretation durch unsere Schauspieler rücken mentalitätsgeschichtliche Ansätze fast automatisch ins Zentrum. Das Publikum begegnet Menschen längst vergangener Zeiten und aus allen gesellschaftlichen Schichten, lernt ihre Ängste und Nöte, Wünsche und Sehnsüchte kennen. Wie dachten die Menschen, wie sahen sie ihre Welt und wie verorteten sie sich in ihr? Das sind die Fragen, die wir durch die Jahrhunderte begleiten. Die Antworten auf sie sind in herkömmlichen Dokumentationen oder Museen vielleicht schwieriger zu vermitteln. Bei uns kann man sie erleben. Was dabei immer bleibt ist der Reiz des Originalmaterials der mittelalterlichen Buchmalereien. Auch sie werden durch unsere Arbeit aus den Versenkungen der Archive gehoben und einer breiten Öffentlichkeit unterhaltsam und niederschwellig zugänglich gemacht. 

Was die Gestaltung der Inhalte anbelangt, waren Authentizität und Liebe zum Detail – wie schon bemerkt – stets oberstes Gebot. So weit wie es uns das mittelalterliche Originalmaterial und die räumlichen Verhältnisse in der immersiven Halle erlaubten, sind architektonische und topographische Gegebenheiten den archäologischen und baugeschichtlichen Befunden nachempfunden. Die Dialoge stecken voller Anspielungen auf Quellen, Ereignisse oder Kontexte – keine Episode, kaum ein Wortwechsel, hinter dem sich nicht eine Andeutung verbirgt. Wer sich darauf einlässt und mit den Inhalten ins Gespräch tritt, dem bieten sich unzählige Anknüpfungspunkte zur weiteren Vertiefung. 

«SiM 2.0»  

The digital exhibition “SiM 2.0” is designed to offer an initial point of access and to complete the path of meaning-making that Schaffhausen in the Middle Ages sets in motion. Where the audiovisual show intentionally avoids traditional formats such as information panels or printed guides, “SiM 2.0” takes up that role in a digital and interactive form. It serves as the museum label that could not find a place within the animated show. Yet just as Schaffhausen in the Middle Ages is not a conventional museum experience, “SiM 2.0” is meant to be more than a plaque, brochure, or catalogue. Its digital format aims to offer interconnected insights, background information, critical framing, and opportunities for reflection and feedback—thus fostering a sustainable process of understanding and meaning-making.

“SiM 2.0” provides a behind-the-scenes look at the production of the audiovisual experience, opens access to the historical imagery used, introduces key historical figures in the context of their time, and explains sources that served as inspiration for the staging. We hope it draws visitors into the spellbinding world of medieval Schaffhausen—its stories, sources, and many layers.

At this point, it should also be noted that this digital extension of Schaffhausen in the Middle Ages remains a work in progress. Were we to accompany every minute of the audiovisual show in full detail, we would essentially be writing a new and comprehensive history of medieval Schaffhausen. Due to limited resources, the focus has initially been placed on areas most in need of contextual explanation or on content that, due to its complexity, was largely omitted from the show—despite being developed for an audience with widely varying levels of prior knowledge.

 

Zu diesem Zweck soll die digitale Ausstellung «SiM 2.0» einen ersten Einstieg bieten und es ermöglichen, den Weg der Bedeutungsbildung, den «Schaffhausen im Mittelalter» anzuregen versucht, zu Ende gehen. Wo in der audiovisuellen Show bewusst auf traditionelle Präsentationsformen wie Infotafeln und Begleithefte verzichtet wurde, greift «SiM 2.0» diese Rolle in digitaler, interaktiver Form auf. Sie ist gleichsam die Museumsinfotafel, die in einer animierten Show wie «Schaffhausen im Mittelalter» keinen Platz gefunden hat. Aber so wie «Schaffhausen im Mittelalter» nicht das klassische Museumserlebnis bietet, soll sie mehr sein als Plakette, herkömmliches Begleitheft oder Katalog. Die digitale Form soll Vernetzung, Feedback, Hintergründe, Einordnung und Vertiefung zugleich bieten und so einen nachhaltigen Prozess der Sinn- und Bedeutungsbildung fördern. «SiM 2.0» bietet Einblicke in den Produktionsprozess der audiovisuellen Inszenierung, eröffnet Zugänge zum verwendeten historischen Bildmaterial, stellt einige Protagonisten im Kontext ihrer Zeit vor und erläutert Quellen, die als Inspiration für die Inszenierung dienten. Wir hoffen, dass sie den Besucher in den Bann der Geschichte, der Quellen und der vielfältigen Welt Schaffhausens im Mittelalter zieht.  

An dieser Stelle sei noch auf den unvollendeten Charakter dieses digitalen Arms von «Schaffhausen im Mittelalter» hingewiesen. Wollte man die audiovisuelle Show von der ersten bis zur letzten Minute begleiten, liesse sich leicht eine umfassende neue Stadtgeschichte Schaffhausens im Mittelalter schreiben. Aus Ressourcengründen wurde der Fokus zunächst auf besonders kontextualisierungsbedürftige Stellen gelegt oder es wurden Inhalte aufgegriffen, die aufgrund ihrer Komplexität fast ganz aus der für ein Publikum mit unterschiedlichstem Vorwissen konzipierten Show herausgestrichen wurden. 

Production Process and Material Selection

The visual concept of Schaffhausen in the Middle Ages is based on late medieval illuminated manuscripts, which were carefully compiled through extensive research in digitally accessible archives (see links and list below). Once the appropriate visual material had been selected, the digital processing began. Individual elements were extracted, minor damage was digitally restored, and the fragments were reassembled into larger visual compositions. In the next step, figures, bodies of water, or clouds were animated by professional designers and synchronized with voice tracks recorded by actors. The finished sequences are then projected, like panoramic images, onto the walls of the immersive space.

 

Produktionsprozess und Materialasuwahl

Grundlage der gestalterischen Umsetzung von «Schaffhausen im Mittelalter» bildeten spätmittelalterliche Buchmalereien, die in intensiver Recherche aus digital verfügbaren Archiven (siehe Links und Liste unten) zusammengetragen wurden. Nachdem das passende Bildmaterial zusammengestellt war, begann der digitale Bearbeitungsprozess. Einzelne Elemente wurden ausgeschnitten, gegebenenfalls Beschädigungen ausgebessert und in grösseren Bildkompositionen neu zusammengefügt. In einem nächsten Schritt wurden Figuren, Gewässer oder Wolken durch Animations-Designer in Bewegung gesetzt und mit den von Schauspieler*innen eingesprochenen Tonspuren synchronisiert. Schliesslich werden die fertigen Sequenzen wie Panoramaaufnahmen auf die Wände des immersiven Raumes projiziert.  

Technical Challenges and Source-Critical Framing

The available historical imagery—particularly with regard to the depiction of human figures—posed a range of technical, aesthetic, and content-related challenges. The visual rhetoric created through color and composition in these manuscripts, most of which originate from courtly contexts, requires careful source-critical interpretation.

First, one must consider the shift in scale required by the technical and design process. Medieval illuminated manuscripts typically come in folio formats ranging from 410 to 200 mm in height and 220 to 150 mm in width, with illustrations often occupying only a small portion of the page. Individual figures usually measure just 5 to 10 cm in height, yet in the immersive environment, they must be projected at life-size or larger onto the walls. This necessitates the use of high-resolution scans and downloadable formats—which, fortunately, are increasingly accessible.

At the same time, the chosen illustrations had to meet certain design criteria: highly detailed depictions would have required excessive animation effort and, due to their rarity, made it difficult to establish a consistent visual language. On the other hand, more functional and narrative-driven depictions—such as those found in the Swiss chronicles—appeared too rough and unrealistic when enlarged to serve as part of an aesthetically engaging visitor experience. Furthermore, only figures shown frontally were suitable for animation, meaning that from the vast quantity of material reviewed, only a few hundred usable figures ultimately remained.

 

Technische Herausforderungen und quellenkritische Einordnung 

Das verfügbare historische Bildmaterial stellte uns – insbesondere im Hinblick auf die Darstellung von Figuren – vor technische, ästhetische und inhaltliche Herausforderungen. Die durch Farben und Komposition erzeugte bildrhetorische Wirkung der vorwiegend aus höfischen Kontexten entnommenen Handschriften bedarf einer quellenkritischen Einordnung. 

Zunächst muss man sich die Dimensionsverschiebungen vor Augen führen, die die technisch-gestalterische Umsetzung bedeutet. Mittelalterliche Prachthandschriften haben typischerweise Folio-Formate zwischen 410 bis 200 mm Höhe und 220 bis 150 mm Breite, wobei die Illustrationen oft nur einen kleinen Teil der Seite einnehmen. Einzelne Figuren sind meist lediglich 5 bis 10 cm gross, müssen in der immersiven Umgebung jedoch überlebensgross an die Wände projiziert werden. Voraussetzung hierfür sind hochauflösende Scans und Downloadmöglichkeiten, die erfreulicherweise zunehmend verfügbar sind. 

Gleichzeitig mussten die Illustrationen bestimmten gestalterischen Kriterien entsprechen: Zu detailreiche Darstellungen hätten einen übermässigen Animationsaufwand bedeutet zudem wäre es aufgrund ihrer Seltenheit schwierig gewesen, eine einheitliche Bildsprache zu etablieren. Andererseits waren sachlich-narrative Darstellungen – wie diejenigen der Schweizer Chroniken – nach Vergrösserung zu grob und unrealistisch, um ein ästhetisch ansprechendes Besuchererlebnis zu schaffen. Zudem eigneten sich nur frontal dargestellte Figuren gut für die Animation, wodurch aus der grossen Menge gesichteten Materials letztlich nur einige hundert brauchbare Figuren übrigblieben. 

Links: Die "Livres des faits des Jacques Lalaing" sind zu detailliert gezeichnet. Einfache Animationen wären zu aufwendig. Mitte: Darstellungen wie diejenigen aus dem "Trost der Philosophie" sind genau richtig. Detailliert genug und gut zu animieren. Rechts: "Luzerner Schilling" Obwohl die Bebilderung der Schweizer Chroniken der dargestellten schweizerisch/süddeutschen Lebenswelt am nächsten gekommen wären, wirken sie überlebensgross zu kraklig.
Livre des faits de Jacques de Lalaing
De consolatione philosophiae
Luzerner Schilling
Links: Die "Livres des faits des Jacques Lalaing" sind zu detailliert gezeichnet. Einfache Animationen wären zu aufwendig. Mitte: Darstellungen wie diejenigen aus dem "Trost der Philosophie" sind genau richtig. Detailliert genug und gut zu animieren. Rechts: "Luzerner Schilling" Obwohl die Bebilderung der Schweizer Chroniken der dargestellten schweizerisch/süddeutschen Lebenswelt am nächsten gekommen wären, wirken sie überlebensgross zu kraklig.

The production context of the manuscripts ultimately proved to be the most significant constraint. These manuscripts were exclusive commissions for ecclesiastical and secular elites. Had we chosen to tell the story of the Hundred Years' War, depict the splendor of the Burgundian or French courts, or stage an apocalypse, many of these challenges would have been avoided.

However, for a city history of Schaffhausen—one that deliberately focuses on the lives of ordinary people—it was necessary to track down the few depictions of merchants, farmers, maids, and servants. The noble and clerical patrons who commissioned these works simply had no interest in such figures. And if they did appear at all, it was usually in bent, strained postures while working—rarely in the frontal perspective required for animation. More often, they were too small or tucked away in the farthest corners of the composition.

The Swiss chronicles might have offered a welcome alternative here—but unfortunately, as described earlier, they were unsuitable for aesthetic reasons.

 

Der Entstehungskontext der Handschriften stellte schliesslich den engsten Flaschenhals dar. Solche Handschriften waren exklusive Auftragsarbeiten für kirchliche und weltliche Eliten. Hätten wir die Geschichte des Hundertjährigen Krieges erzählen, die Pracht des burgundischen oder französischen Hofes darstellen oder eine Apokalypse inszenieren wollen, hätte das viel Kopfzerbrechen erspart. Doch für eine Stadtgeschichte Schaffhausens, die zudem einen deutlichen Fokus auf das Leben der einfachen Leute setzen wollte, mussten die wenigen Händler, Bauern, Mägde und Knechte ausfindig gemacht werden. Die auftraggebenden Fürsten und Kirchenherren interessierten sich schlicht nicht für sie. Und falls sie doch auftauchten, dann meist in gebückter, angestrengter Haltung bei der Arbeit und damit nicht in der erforderlichen Frontalität. Oder sie waren zu klein, irgendwo im hintersten Eck der Komposition versteckt. Die Schweizer Chroniken hätten hier einen willkommenen Ausweg geboten. Leider eigneten sie sich aus den beschriebenen ästhetischen Gründen nicht.  

Bauern bei der Feldarbeit (Der Monat September, Les très riches heures de Duc de Berry).
Bauern bei der Feldarbeit (Der Monat September, Les très riches heures de Duc de Berry).

With diligent and careful research, the challenges described above could be overcome. However, the visual language of the available material must be critically contextualized. Visitors to Schaffhausen in the Middle Ages may come away with the impression that the medieval world was colorful and vibrant—even in the clothing of peasants, maids, and servants.

In reality, such vivid colors are a product of the representational nature of luxury manuscripts, whose patrons expected elaborate and costly coloration. Shades of gray, brown, and ochre did not meet these expectations and were therefore rarely used. The intended audience wanted to delight in rich, luminous colors—not be reminded of the drabness of everyday life. Princes and churchmen wanted to showcase their wealth; the artists wanted to demonstrate their skill. Poverty, grime, and dirt had no place in these prestige objects.

Schaffhausen in the Middle Ages does not present historically realistic depictions, but rather stages what could be called the “comics of the Middle Ages,” complete with their own visual codes and symbolic language. The visual worlds we have created should thus also be viewed with a critical eye.

 

Mit fleissiger und sorgfältiger Recherche liessen sich die beschriebenen Herausforderungen überwinden. Die Bildsprache des zur Verfügung stehenden Materials muss jedoch kontextualisiert werden. Beim Besuch von «Schaffhausen im Mittelalter» könnte der Eindruck entstehen, das Mittelalter sei farbenfroh und bunt gewesen, mit kräftigen, leuchtenden Farben selbst bei der Kleidung von Bauern, Mägden und Knechten.  Tatsächlich sind diese intensiven Farben aber dem repräsentativen Charakter der Luxushandschriften geschuldet, deren Auftraggeber aufwendige und teure Farbgestaltungen erwarteten. Grau-, Braun- und Ockertöne entsprachen nicht diesen Erwartungen und wurden deshalb kaum verwendet. Ihre Betrachter wollten sich schliesslich an leuchtenden, teuren Farben erfreuen, anstatt den allzu bekannten grauen Alltag zu betrachten. Fürsten und Kirchenherren wollten zeigen, was sie hatten, die Künstler wollten zeigen, was sie konnten. Auch Armut, Dreck und Schmutz hatten in den repräsentativen Objekten wenig zu suchen. «Schaffhausen im Mittelalter» inszeniert nicht realitätsnahe Darstellungen, sondern die die «Comics des Mittelalters» mit den ihnen eigenen Bildsprachen und Symboliken. Auch die von uns geschaffenen Bildwelten sind dementsprechend kritisch zu hinterfragen. 

The Visual Material

The imagery used in the show can be broadly divided into three categories based on its function.

On the contextual framing level of the production—such as the speeches delivered in the city scribe’s study and in more abstract sequences—the visual material is used differently than on the scenic level of enacted events and dialogues: here, it is altered little or not at all and retains its original character as a manuscript page. This made it possible, despite the previously mentioned technical and aesthetic limitations, to incorporate iconic materials and use illustrations that directly depict the historical events referenced—such as original Schaffhausen charters, pages from the Heidelberg Sachsenspiegel, the Codex Manesse, or the depiction of the Battle of Sempach in the Luzerner Schilling.

 

Das Bildmaterial

Das in der Show verwendete Bildmaterial lässt sich hinsichtlich seines Verwendungszwecks grob in drei Kategorien einteilen. 

Auf der kontextualisierenden Rahmenebene der Inszenierung – Ansprachen in der Schreibstube des Stadtschreibers und abstrakteren Sequenzen – wird das Bildmaterial anders verwendet als auf der szenischen Ebene der Handlungen und Dialoge: es wird kaum oder gar nicht verändert und behält seinen Charakter als Buchseite bei. Dadurch war es möglich, trotz der zuvor beschriebenen technischen und ästhetischen Einschränkungen ikonisches Material einzusetzen und es konnten Darstellungen genutzt werden, die die tatsächlich beschriebenen Sachverhalte darstellen – etwa originale Schaffhauser Urkunden, Seiten aus dem Heidelberger Sachsenspiegel, dem Codex Manesse oder die im Luzerner Schilling dargestellte Schlacht bei Sempach. 

To stage the events surrounding the founding of the Abbey of Allerheiligen—when Pope Leo IX was received in 1049 by Count Eberhard VI of Nellenburg, his mother, and their entourage for the consecration of the building site—illustrations from two early 13th-century Apocalypses were used. The aim was to approximate the noble fashion of the 11th century, with its wide, flowing garments, and to clearly distinguish it from the tightly fitted style of the 15th century.

 

Für die Inszenierung der Ereignisse rund um die Stiftung des Klosters Allerheiligen – Papst Leo IX. wurde im Jahr 1049 von Graf Eberhard VI. von Nellenburg, seiner Mutter und seinem Gefolge zur Weihe des Bauplatzes empfangen – kamen Illustrationen aus zwei Apokalypsen des frühen 13. Jahrhunderts zum Einsatz. Ziel war es, sich der adeligen Mode des 11. Jahrhunderts mit ihren weiten, fliessenden Gewändern anzunähern und sie damit deutlich vom eng taillierten Stil des 15. Jahrhunderts abzugrenzen. 

Links: Die heiligen drei Könige in der Mode des frühen 13. Jh. dargestellt machen dem Jesuskind ihre Aufwartung. Rechts: Drei Ritter des 15. Jh. ziehen ihre Turnierlose.
Links: Die heiligen drei Könige – in der Mode des frühen 13. Jh. dargestellt – machen dem Jesuskind ihre Aufwartung. ("Cloisters-Apocalypse", f. 2r). Rechts: Vier Ritter des 15. Jh. bekommen vom Herold ihre Turnierlose zugeteilt. ("René I d'Anjou, Traité de la forme et devis comme on peut faire les tournois", f. 7v)

The majority of the visual material—architecture, landscapes, objects, animals, and figures—is drawn from 15th-century manuscripts. They form the foundation for the scenic depiction of events at the Schifflände and in late medieval Schaffhausen.

 

Der grösste Teil des Bildmaterials – Architektur, Landschaften, Objekte, Tiere und Figuren – ist Handschriften des 15. Jahrhunderts entnommen. Sie bilden die Grundlage für die szenische Umsetzung des Geschehens an der Schifflände und im spätmittelalterlichen Schaffhausen. 

Side Paths into the Archives

A central aim of Schaffhausen in the Middle Ages is to bring medieval illuminated manuscripts out of the depths of the archives and make them accessible to a wide audience through audiovisual and theatrical interpretation. The often hard-to-find digital collections should become more visible and easier to access through the following links.

Embark on a journey of discovery through some of the most beautiful visual worlds of the Middle Ages. Enjoy exploring!

 

Abzweigungen in die Archive 

Ein zentrales Anliegen von «Schaffhausen im Mittelalter» ist es, mittelalterliche Prachthandschriften aus den Tiefen der Archive zu heben und sie durch die audiovisuelle, theatrale Inszenierung einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die teilweise schwer auffindbaren digitalen Sammlungen sollen durch die folgenden Links sichtbarer und leichter zugänglich werden.

Begeben Sie sich auf Entdeckungsreise zu einigen der schönsten Bildwelten des Mittelalters. Viel Spass beim Stöbern!

 

Rahmenebene/ contextual level

Der Heidelberger Sachsenspiegel 

Das Stundenbuch des Duc de Berry 

Der Codex Manesse 

Der Luzerner Schilling 

The Lutrell Psalter 

Le Somme le Roi

 

Szenische Ebene hohes Mittelalter/Scenic level high middle agges 

Die Apokalypse von Val Dieu

The Cloisters Apocalypse

 

Szenische Ebene spätes Mittelalter/ Scenic Level late middle ages

Bibliothèque Nationale de France :

La Geste ou histoire du noble roy Alixandre, roy de Macedonne

Jean Boutillier, Somme rural, francais 201

Jean Boutillier, Somme rural, francais 202

Livre lequel entre aultres matieres traitte de la nativité Nostre Seigneur Jhesu Crist. Volume 1er

Livre lequel entre aultres matieres traitte de la nativité Nostre Seigneur Jhesu Crist. Volume II

Alain Chartier, Quadriloge invectif e l'Espérance

Chroniques sire Jehan Froissart, Francais 2643

Chroniques sire Jehan Froissart, Francais 2644

Chroniques sire Jehan Froissart, Francais 2645

Chroniques sire Jehan Froissart, Francais 2646

Chroniques sire Jehan Froissart, Francais 2647

Le livre du Jennencel, nouvellement fait et compilé par un discret et honnourable chevalier,  de Jean du Bueil

Gérard de Nevers, mise en prose du Roman de la Violette de Gerbert de Montreuil

De cas de nobles hommes et femmes

Anciennes chroniques d'Angleterre, Jean de Wavrin

Le livre appellé Decameron

Dialogue de Pierre Salmon

Aristote, Éthiques, Politiques et Économiques

Süddeutscher Tacuinum Sanitatis

Faits du Grand Alexandre, adaption francaise par Vasque de Lucène

Flavius Josèphe, Antiquités judaiques et Guerre de juifs. Tables suivies des Livres I à IV

Flavius Josèphe, Les Antiquités judaiques (Livres I-XIV)

Flavius Josèphe, Les Antiquités judaiques (Livres I-XX), Guerre des juifs (Livres XXI-XXVII)

Guillaume Caoursin, Gestorum Rhodie obsidionis commentarii, Oratio de morte magni Turci, De casu regis Zizimi

La Boucquechardiere, Compilation de Jehan de Courcy

Le Verger d'honneur par Andre de la Vigne

Ludolphe de Saxe, Vie de Jésus-Christ, traduction en francais de la Vita Christi

Giovanni Colonna, Mare historiarum

Opera astrologia

Philippe Camus, Histoire d'Olivier de Castille et d'Artus d?algarbe, dans la version remanieé par David Aubert

Compilation des Cronicques et ystores des Bretons partie en III livretz par Pierre le Baut

René l'Anjou, Traité de la forme et devis comme on peut faire les tournois

Roman de Troie en prose, dit Livre de la destruction de Troyes

S. Augustin. La Cité de Dieu, traduction de Raoul de Presles, t. II liv. IX à XX

Saint Augustin, La Cité de Dieu, traduite en francais par Raoul de Presles

Saint Augustin, La Cité de Dieu, traduite en francais par Raoul de Presles. Livres I-X

Saint Augustin, La Cité de Dieu, traduite en francais par Raoul de Presles. Livres XI-XXII

Stile du doit francois, divisé en quarante titres

Publius Terencius Afer, Comoediae

Publius Terencius Afer, Andria, Eunuchus, Heautontimoroumenos, Adelphoe, Hecyra, Phormio

Valère Maxime, Dits et faits mémorables, traduction francaise de Simon de Hesdin et Nicolas

Vie et miracles de monseigneur saint Louis ou Livre de faits de monseigneur saint Louis

 

Andere Institutionen:

Stundenbuch

Livres des faits du Jacques de Lalaing

Fifteen Cuttings from Histoire de Charles Martel

Livres de fais d'Alexandre le grant

Chroniques (Book Three)

De Consolatione Philosophiae

Da Costa Hours

Spinola Hours

Das Dresdner Gebetbuch

Wiener Tacuinum Sanitatis

Die Hausbücher der Nürnberger Zwölfbrüderstiftungen

Breviarium Grimani

 

Die Protagonisten von Schaffhausen im Mittelalter. Beten, Herrschen, Arbeiten. 

Unser Stadtführer: Johann Jakob Rüeger 

Woher kommt eigentlich der Name Schaffhausen? Schon unser Stadtführer Johann Jakob Rüeger stellte sich um 1600 im ersten Buch seiner „Chronik der Stadt und Landschaft Schaffhausen“ diese Frage. Für den zweiten Teil des aus einem Bestimmungs- und einem Gattungswort gebildeten Namens ist die Antwort einfach. Das Gattungswort Hausen stammt von althochdeutsch ze den hūsum, hūsun und bedeutet so viel wie «bei den Häusern». Die Herkunft des Bestimmungswortes Schaff ist hingegen schwieriger zu bestimmen. Was war denn bei den Häusern? Welche Funktion hatten sie? Die Beantwortung dieser Fragen würde Licht ins Dunkel der frühesten Stadtgeschichte (9./10. Jh.) werfen. Seit ältester Zeit wird eine Verbindung zum althochdeutschen Wort scāf, skāf «Schaf» postuliert. So nannte sich Abt Hugo von Allerheiligen 1190 Abbas Ovidomenis («Abt von Schaf-Hausen») und auch die älteren Schaffhauser Münzen (um 1180-1200) zeigen schon einen Widder. 

Der Schaffhauser Bürger, reformierte Pfarrer, Scholarchenrat (Schulrat) und Geschichtsschreiber Johann Jakob Rüeger (1548-1606) führt als überzeitlicher Begleiter durch «Schaffhausen im Mittelalter». Der Kupferstich nach einer Zeichnung von Hans Kaspar lang (um 1599) diente als Vorlage für die Umsetzung «unseres Stadtführers».

Den auf den ersten Blick vielleicht naheliegenden Gedanken, es habe sich um die Häuser der Schafe, um Schafställe, gehandelt, verwarf schon Rüeger dezidiert. Für den Humanisten, reformierten Pfarrer und Schulrat war die Sache klar: in kritischer Auseinandersetzung mit der gelehrten Tradition und den Quellen – in der Chronik Berchtholds von Konstanz ist von navium domus (Häuser der Schiffe) die Rede – kommt er zu dem Schluss, das Bestimmungswort leite sich von den Schiffen ab. Die ausführliche, philologische Abhandlung der Frage bringt er schliesslich mit der praktischen, für Jede und Jeden verständlichen Bemerkung auf den Punkt, es sei ja kaum notwendig gewesen den Schafen, «so weder über Rhin, noch den Rhin uf und ab schwümmen oder faren müessend und derhalben unvonnöten gsin, inen dahin ein huß und wonung zebuwen […] Der Nam Schaffhusen entspringt von dem Nammen Schiff oder Schäff, […] wie unsere Fischer sagen.»  

Rüeger wollte mit seiner Chronik nämlich nicht nur dokumentieren, sondern auch lehren und belehren. Sein Anliegen war es nicht zuletzt, die Bildung der Bürger zu fördern – ganz im Sinne der zeitgenössischen humanistischen Bildungsideale (studia humanitatis). Diesem Ziel sehen auch wir uns verpflichtet. Wissen um die eigene Geschichte und ein kritischer Umgang mit ihr bilden Grundbausteine für das Funktionieren einer kritischen Öffentlichkeit. Einsichten in die politische Instrumentalisierung historischer Narrative, reflektierter Umgang mit Quellen, Verständnis für das Andere – all das kann man ohne Weiteres als demokratische Kernkompetenzen bezeichnen. In einer Zeit, in der Verschwörungstheorien, Fake-News und staatliche Propaganda eine Informationslandschaft von zuvor nie dagewesener Komplexität verschmutzen, sind diese Kompetenzen so wesentlich wie lange nicht. Auf die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann, gibt es nur eine Antwort: Aus was sonst? Ganz wie die Chronik des humanistisch geschulten, reformierten Bildungsbürgers, die die Geschichte Schaffhausens in eine grössere Geschichte der Eidgenossenschaft und des Reichs einordnet, versucht «Schaffhausen im Mittelalter» nicht nur Stadtgeschichte zu erzählen. Das Werden unserer Stadt soll vielmehr eingeordnet werden in grössere historische Zusammenhänge. Die Menschen, die wir zum Sprechen bringen, sollen aus den Bedingungen ihrer Zeit heraus verständlich gemacht werden. Wir sind überzeugt davon, dass sich Johann Jakob Rüeger – unser Bruder im Geiste – sehr darüber freuen würde, in der Rhyality erneut eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.

Doch woher kommt nun der Name Schaffhausen? Heute gelten zwei andere Erklärungen als wahrscheinlicher. Abgeleitet von althochdeutsch scaft bzw. mittelhochdeutsch schaft (Schaft, Speer, Lanze, Pflanzenschaft oder Pflanzenstängel) wird Schaffhausen als «Häuser am Röhricht» gedeutet. Dieser Name rückt Bilder einer ursprünglichen Flusslandschaft mit sumpfigen Uferzonen vor unser inneres Auge und erinnert daran, dass auch geographische Gegebenheiten – gerne als unverrückbare Konstante, den Lauf der Geschichte bedingend, gesehen – zeitlichem Wandel unterworfen sind. Es ist gut möglich, dass die letzte Biegung des Rheins vor den undurchdringlichen Stromschnellen auf der Höhe Schaffhausens im frühen Mittelalter als Schifflände gänzlich ungeeignet war oder die Schifffahrt durch natürliche Hindernisse schon einige Meter flussaufwärts unmöglich war. Das würde erklären, warum im Frühmittelalter Büsingen – nicht Schaffhausen – als Siedlungsknoten und demographischer Schwerpunkt unseres Raumes archäologisch fassbar ist. Die zweite Erklärung leitet das Bestimmungswort von althochdeutsch scaf bzw. mittelhochdeutsch scapf (Schöpfgefäss, Getreidemass, Scheffel) ab und deutet Schaffhausen als die Häuser, bei denen Salz und Getreide eingelagert oder mit Schöpfgefässen ausgemessen wurde. Wie Rüegers Verbindung mit den Schiffen würde dies auf eine frühe Verbindung des Ortes mit dem Handel in Form eines frühmittelalterlichen Ufermarkts hindeuten. Auch Rüeger, ohne dessen unermüdliche Quellenarbeit die Geschichtsschreibung Schaffhausens um ein Vielfaches ärmer wäre, konnte sich irren. Wir denken aber, unser kritischer Geist hätte damit kein Problem gehabt und sich vielmehr am Erkenntnisgewinn der Jahrhunderte erfreut. 

Graf Eberhard VI. von Nellenburg 

Als Graf Eberhard VI. im Jahr des Herrn 1049 auf dem Rückweg von einer Pilgerreise nach Rom bei Schaffhausen über den Rhein setzte, hatte der Fährmann lang erwartete frohe Botschaft für ihn. Stunde um Stunde hatte der gottgefällige, tugendhafte Graf vor den Gräbern der heiligen Apostel Petrus und Paulus zu Rom verharrt – kniend, die Hände gefaltet, versunken in tiefer Andacht und stiller Zwiesprache mit Gott und den Heiligen. Reichtum, Einfluss und Ansehen hatte der bei seinen Untertanen geliebte und von seinen Feinden gefürchtete Graf zur Genüge. Aber seit Jahren hatte ihn nur ein Wunsch bewegt: In seinen Landen sollte ein Gotteshaus errichtet werden – ein Ort der Andacht und des Gebets, ein Hafen für die Bedürftigen.  Ein solches Haus Gottes, dem Grosses vorherbestimmt sein sollte, konnte nicht an irgendeinem Ort entstehen. Den richtigen Platz zu finden - dafür bedurfte es eines Zeichens göttlicher Vorsehung. Es zu empfangen war das Ziel von Eberhards Pilgerfahrt gewesen. Zu diesem Zweck hatte er die Mühen auf sich genommen und an der letzten Ruhestätte der Apostel Christi gebetet. Der Wunsch wurde ihm vom Himmel erfüllt.  

Graf Eberhard der VI. von Nellenburg (erstmals erwähnt 1034, gest. 2.5.1078/1079 im Kloster Allerheiligen zu Schaffhausen) neben seiner Mutter Hedwig aus dem Geschlecht der Grafen von Egisheim (geb. um 990, gest. nach 1044).

Auf Bitte des Grafen hatte auch der gute Fährmann zu Gott gebetet, er möge ihm ein Zeichen geben. Er sah es inmitten unheimlicher Wildnis. Eine Quelle erzählt davon: «Wo sich heute das Kloster und die Stadt Schaffhausen befinden», erstreckte sich damals ein dichter Wald – von Wölfen durchstreift, von Räubern bevölkert, wagte ihn kein rechtschaffener Mensch zu betreten. Und der Fährmann sah eines Tages «während seiner Andacht eine Röte aufgehen von der Erde bis an den Himmel an der Stelle, wo nun die Urständskapelle, auch Erhardskapelle genannt, steht. Auf der Röte sah man ein goldenes Kreuz. Von diesem Zeichen berichtete der gute Mann dem Grafen Eberhard. Sogleich liess Graf Eberhard an dieser Stelle Holz und Dorngestrüpp wegräumen, stiftete hier eine Kapelle und setzte drei Altäre darein. Die Kapelle nannte man Auferstehungskapelle (Urständskapelle).»  

So weiss uns das Stifterbuch des Klosters Allerheiligen vom Grafen Eberhard und seiner grössten Stiftung zu berichten. Denn schon (oder gerade) das Mittelalter wusste: keine grosse Tat ohne gute Geschichte, keine Unternehmung ohne das richtige Marketing.  

Mit der historischen Wirklichkeit hat die Erzählung vom frommen Pilger, vom undurchdringlichen Räuberwald und vom guten Fährmann nur wenig zu tun. Zur Zeit der Klostergründung gab es schon seit mindestens 50 Jahren, keine hundert Meter entfernt an der Stelle des heutigen St. Johanns, eine – wenn auch bescheidene – romanische Kirche. Schaffhausen war von einem Wall umgeben; in der werdenden Stadt wurde eine Münzstätte betrieben und regelmässig Markt gehalten. Auf dem Herrenacker und auf dem Gebiet des Klosters hatte man schon seit Jahrhunderten Kalkstein abgebaut, Kalk gebrannt und Eisen verhüttet. Unberührte Wildnis sieht anders aus! 

Der Mönch, der die Gründungslegende aufschrieb – ob bereits Anfang des 12. Jahrhunderts in einer lateinischen Erstfassung oder erst im frühen 14. Jahrhundert, darüber ist sich die Forschung uneins – verfolgte mit seiner Darstellung eigene Ziele. Sei es, die Unabhängigkeit des Klosters in den Wirren der Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst zu betonen oder die Herrschaftsrechte des Klosters vor dem aufstrebenden Stadtbürgertum abzusichern. Was hier überliefert ist, ist mehr als fromme Erzählung. Es ist gezielt konstruierte Erinnerung. Tradition war im Mittelalter eines der wirkungsvollsten Mittel zur Legitimation von Macht und Besitz. Eine gute Geschichte – je älter, desto besser – war nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern politisches Werkzeug, um Ansprüche zu begründen, Autorität zu sichern und den eigenen Platz in der Geschichte festzuschreiben. 

Und trotzdem: die Geschichte Schaffhausens ist untrennbar mit dem Geschlecht der Nellenburger verbunden. Graf Eberhard VI. von Nellenburg entstammte dem hochadligen Grafengeschlecht der Eberhardinger, dessen Güter und Rechte sich vor allem im Thur- und Zürichgau, daneben im Klettgau und Hegau konzentrierten. Vermutlich zwischen 1010 und 1015 geboren, wird Eberhard 1036/37 erstmals als Graf im Zürichgau urkundlich erwähnt. Über seine Mutter, Hedwig, war er mit Bruno von Egisheim-Dagsburg, dem Bischof von Toul und späterem Papst Leo IX., verwandt. Die Mutter Hedwigs, Eva von Lützelburg, war die Schwester Kunigundes, der Gemahlin Kaiser Heinrichs II. Vor ihrer Eheschliessung hielt sich Hedwig bei ihrer Tante am Kaiserhof auf.  

Frauen spielten eine bedeutende Rolle in der Pflege verwandtschaftlicher Beziehungen und in der Diplomatie unter den weitverzweigten Beziehungsnetzen hochadeliger Geschlechter. Bei der Verleihung des Münzrechts und dem Besuch des Papstes wird es Hedwig gewesen sein, die diplomatische Fäden geschickt spann und entscheidende Kanäle gut vorbereitete. 

Hedwig vor dem Münzrecht von 1045, der «Geburtsurkunde» Schaffhausens: «Genau, ohne Familienbande keine erfolgreiche Politik!».

Auch im Dienst von Kaiser und Papst treten die politisch offenbar recht bedeutenden Eberhardinger wiederholt in Erscheinung. So begleitete Eberhard 1047 Kaiser Heinrich III. auf dessen Italienfahrt. Sein älterer Bruder Burkhard fiel 1053 bei Civitate in Apulien, wo das kleine Heer Papst Leos IX. von den Normannen vernichtend geschlagen wurde. Ein weiterer Bruder Eberhards, Manegold, geboren um 1010, fand den Tod bereits 1030 vor Falkenstein auf Seite König Konrads II. in dessen Auseinandersetzung mit Herzog Ernst von Schwaben. Auch die Söhne Eberhards, Eberhard und Heinrich, standen nach Auskunft des Stifterbuches in königlichen Diensten. Beide kamen 1075 im Sachsenkrieg Heinrichs IV. in der Schlacht bei Homburg an der Unstrut ums Leben. Udo, der älteste Sohn und Erzbischof von Trier, wurde in kaiserlichen Diensten 1078 bei der Belagerung der Burg Tübingen tödlich verwundet.

Das besondere Augenmerk, das Graf Eberhard seit den 1030er Jahren auf den Raum Schaffhausen legte, ist einerseits Teil normaler Prozesse, in Zuge derer Adlige das Konglomerat ihrer Besitzungen durch Käufe, Verkäufe und Tausch ständig neu ordneten. Herrschaft war im 11. Jahrhundert noch nicht Herrschaft über ein Gebiet, sondern über Personen und an Personen gebunden, dementsprechend dynamisch und biologischem Zufall unterworfen. Erbteilungen konnten Herrschaftskomplexe zersplittern, während günstige Erbfälle oder strategisch geschickte Heiraten zur Konzentration von Herrschaft führten. Vielfältige Lehensbeziehungen sorgten zudem für einen Flickenteppich aus sich überlagernden Herrschaftsansprüchen, Rechten und Besitzungen. Veränderten sich Familienkonstellationen, verschoben sich Machtverhältnisse oder entstanden neue Allianzen, so mussten die oft weit verstreuten Güter und Rechte neu geordnet werden. Rechte, Güter und Ansprüche wurden getauscht, verpfändet, verkauft oder verschenkt – mitunter so rege wie Panini-Bildchen auf dem Schulhof.  

Das klassische Bild der Lehenspyramide, mit dem König an der Spitze und einer streng hierarchischen Abfolge von Vasallen und Untervasallen, wird der Komplexität der unterschiedlichsten Lehensverhältnisse nicht gerecht und gilt als überholt.  

Um die schon von den Zeitgenossen als überwältigend empfundene Vielfalt des Lehensrechts darzustellen, lassen wir unserem Stadtführer die mit Merkhilfen bebilderten Seiten des Heidelberger Sachsenspiegels um die Ohren fliegen. 

Andererseits lässt sich Eberhards Wirken als Teil eines umfassenden Wandels begreifen, infolgedessen sich die Art und Weise der Herrschaftsausübung und Überschussextraktion im Übergang zum Hochmittelalter tiefgreifend veränderte. Während der Adel im Frühmittelalter noch hochmobil gewesen war – oft war man im Dienst des Königs in ganz Europa unterwegs –, begann er sich ab dem 10. und 11. Jahrhundert zunehmend zu „verorten“. Herrschaft wurde räumlich fixiert, vereinheitlicht und intensiviert. War es zuvor nicht ungewöhnlich, dass Besitz- und Herrschaftsrechte über Land und Leute getrennt waren, wurden sie nun zunehmend in räumlich sauber getrennten Einheiten kombiniert. Das ermöglichte neue Wege der Überschussabschöpfung: Abgaben in Naturalien sowie Gebühren für die Nutzung herrschaftlicher Einrichtungen wie Mühlen, Backöfen, Weinpressen oder Wälder, dazu Einkünfte aus Märkten und Münzstätten oder Einnahmen aus der Ausübung der Gerichtsbarkeit – etwa in Form von Bussgeldern, Heiratsabgaben oder Erbfallleistungen. All dies zählte zu den vielfältigen Einkunftsquellen des Adels, aus denen er seine Fehden, Feste und Geschmeide finanzierte. 

Der Wanderprediger und Dichter Freidank kritisierte um 1230 die Aneignung der Natur durch den Adel: «Die Fürsten nehmen mit Gewalt / Feld und Wasser, Stein und Wald, / das zahme und das wild' Getier. / Sie nähmen selbst das Luftrevier, / doch bleibt uns dieses noch gemein. / Sie möchten Regen, Sonnenschein / und Wind verbieten und uns zwingen, / dafür den Zins in Gold zu bringen.» (Freidank, Bescheidenheit, um 1230)  

Auch wenn die Bauern gerade im Licht des wirtschaftlichen und demographischen Aufschwungs des 11. Jahrhunderts nicht unbedingt schlechter gestellt waren – wer beschwert sich nicht gerne über neue Steuern? 

Als Zentren der Rechtsprechung, der landwirtschaftlichen Produktion, zum Schutz vor Eindringlingen sowie zur Ausübung von politischer Macht über die Bevölkerung schossen Burgen wie Pilze aus dem Boden. In der Hochphase des Burgenbaus – also vor allem zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert – existierten auf dem Gebiet der heutigen Schweiz mehr als 1200 Burgen und befestigte Adelssitze. Auch Eberhard liess seine Nellenburg errichten; erstmals in einer Urkunde erwähnt wird sie 1056. Bezeichnend für diesen Prozess der «Sesshaftwerdung» ist, dass erst Eberhards Erbe Burkhard als «Graf von Nellenburg» auftritt. Zuvor waren die Nellenburger nach ihrem Stammvater schlicht als Eberhardinger, also «Nachfahren des Eberhard», bekannt. 

Auch die Gründung des Klosters Allerheiligen lässt sich in diesem Zusammenhang deuten. Zweifellos stand auch für Eberhard das Seelenheil im Zentrum seiner Frömmigkeit. Die täglichen Gebete und Fürbitten der Mönche für den Stifter ihrer Klausur sollten sicherstellen, dass sich Gott bis zum Tag des Jüngsten Gerichts an das gottgefällige Wirken des Grafen erinnerte. Der Platz im ewigen Himmelsreich sollte ihm gewiss sein. Doch Klöster waren nicht nur Stätten des Glaubens, sondern auch bedeutende Werkzeuge der Macht. Von den schriftkundigen Mönchen ausgestellte Urkunden festigten Herrschaftsansprüche, die europaweit verzweigten Ordensnetze waren wichtige Kommunikationsmittel für die Diplomatie. Waren Ländereien einem Kloster übertragen, war es zudem für politische Rivalen schwierig, Ansprüche auf das nun heilige Gut geltend zu machen, während der Stifter als Vogt – also weltlicher Verwalter des Klosters – die Kontrolle behielt und im Hintergrund weiterhin die Fäden zog. Hinzu kamen die Schenkungen anderer Adliger, die den Einfluss und die wirtschaftliche Macht solcher Klöster weiter steigerten. Klöster wurden so zu Kristallisationspunkten von Herrschaft. 

Im Falle Allerheiligens deutet eine nur wenige Monate nach Baubeginn ausgestellte Urkunde in diese Richtung. Im März des Jahres 1050 trafen Berchtold, Herzog von Kärnten, und Eberhard, Graf des Zürichgaus, im schwäbischen Hilzingen zusammen, um ein Tauschgeschäft zu auszuhandeln. Zuvor hatten Eberhard und seine Baumeister – möglicherweise in Unkenntnis der Besitzverhältnisse (?) – Steine und Sand von einem Grundstück der Bamberger Kirche an der Rheinfurt für den Bau des Klosters Allerheiligen verwendet. Um diese Eigentumsverletzung zu bereinigen, einigte man sich gütlich: «Graf Eberhard überliess dem Herzog ein Grundstück bei Rodilinstein in Rinhart, […] damit dieses dauerhaft in den Besitz der Bamberger Kirche übergehe. Im Gegenzug erhielt er von Herzog Berthold jene Güter bei Schaffhausen, die zuvor zur Bamberger Kirche gehört hatten, zum ewigen Besitz.» Das Geschäft muss für unseren Grafen eine willkommene Gelegenheit gewesen sein, Besitz am neuen Schwerpunkt seiner Herrschaft anzuhäufen. Die Stiftung weltlicher Güter an die Kirche sowie der Bau eines Gotteshauses waren Argumente, denen sich sein Tauschpartner kaum entziehen konnte. Eberhard machte ihm wahrlich ein «Angebot, das er [Berchtold] nicht ablehnen konnte.» Im Beisein von Söhnen und Gefolgsleuten wurde das Geschäft von Pater Luitpold auf Pergament niedergeschrieben und «in gutem Gelingen» unterzeichnet.

Pater Luitpold, Architekt des ersten Baues Allerheiligens, war Kaplan am Hofe Eberhards und vielleicht auch der namentlich nicht bekannte erste Abt des Klosters. Er symbolisiert in «Schaffhausen im Mittelalter» die Rolle des Klerus in der Überlieferung antiken Wissens 

Auch nach der Fertigstellung des Klosters im Jahr 1064 gingen Eberhards Bemühungen weiter, seine Herrschaft im Raum Schaffhausen zu konzentrieren. 1065 tauschte er mit Heinrich IV. die Grafschaft Chiavenna und erhielt von diesem 1067 den Wildbann im Klettgau und im Hegau. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Nellenburg als Konverse im Kloster Allerheiligen. Hier konnte er sich in aller Abgeschiedenheit von den Sünden der Welt auf den grossen Schritt ins Himmelreich vorbereiten. Er starb 1078 oder 1079 und wurde in der geweihten Erde seiner Stiftung beigesetzt – an jenem Ort, der wie kaum ein anderer für sein geistliches und politisches Vermächtnis steht. 

Papst Leo IX. 

Papst Leo IX. (geb. 12. Februar 1002 in Egisheim, gest. 19. März 1054 in Rom) aus dem Geschlecht der Grafen von Dagsburg-Egisheim war nicht irgendein Papst – er prägte seine Zeit auf tiefgreifende Weise. Unter seiner Führung nahmen die grossen Kirchenreformen des 11. Jahrhunderts ihren Anfang. Sein Anspruch auf die Autorität des Papsttums über die anderen Bischofssitze löste das morgenländische Schisma von 1054 – die endgültige Trennung der orthodoxen und katholischen Kirche – aus. Ein Friedensapostel war Leo gewiss nicht. Der aus dem Hochadel stammende Kleriker hatte kein Problem damit, selbst zu den Waffen zu greifen. Er begleitete Kaiser und König mehrfach auf Kriegszügen und zog im Jahr 1053 sogar nach Süditalien, um persönlich gegen die Normannen zu kämpfen. Hier zeigt sich – wie bei vielen Geistlichen seiner Zeit – die Haltung eines Mannes, der nicht nur kirchliche, sondern auch weltliche Macht für sich in Anspruch nahm. Die Mentalität des Hochadels – durchsetzungsstark, ehrgeizig und konfliktbereit – prägte sein Handeln mehr als das Ideal des demütigen Hirten.

Als Papst Leo IX am 22. November 1049 in Schaffhausen eintraf, lag eine lange und beschwerliche Reise hinter ihm, deren Strapazen wohl auch durch die Mittel, die einem Papst zu Gebote standen, kaum gelindert werden konnten. Doch seit seiner Wahl zum Papst im Februar desselben Jahres war er von aussergewöhnlichem reformerischem Eifer erfüllt. Bereits seine Amtsübernahme war ein deutliches Zeichen: Obwohl ihn Kaiser Heinrich III. zum Papst vorgeschlagen hatte, machte Leo ihre Annahme von der Wahl durch Klerus und Volk von Rom abhängig – ein bewusster Schritt, mit dem ausserkirchliche Einflussnahme sichtbar zurückgedrängt werden sollte. Leo stand damit am Beginn einer Bewegung, die den Sohn seines kaiserlichen Fürsprechs bei Canossa auf die Knie zwingen sollte.  

Die Entschlossenheit, mit der Leo seine Reformagenda verfolgte, zeigte sich bereits in seinem ersten Amtsjahr: Gleich vier Synoden berief der neue Papst zur Erneuerung der Kirche ein – in Rom (9.–15. April), Pavia (14.–20. Mai), Reims (3.–5. Oktober) und Mainz (19.–29. Oktober). Dort standen nun erstmals zentrale Themen der Reform auf der Tagesordnung: das Verbot der Priesterehe, die Einschränkung der Simonie (des Kaufs und Verkaufs geistlicher Ämter), das Zurückdrängen der Rechte und Funktionen von Laien in der Kirche, die kanonische Wahl der Bischöfe und die Stärkung des innerkirchlichen Primats des Papsttums. Alle diese Versammlungen leitete Leo persönlich. In einer Welt, in der Politik auf persönlichen Beziehungen beruhte, musste man vor Ort sein, wollte man solch ehrgeizige Ziele durchsetzen. Ähnlich den römisch-deutschen Reisekönigen, die von Pfalz zu Pfalz zogen, um Eide abzunehmen und Herrschaft zu sichern, wurde Leo zum «Reisepapst» – ein sichtbarer Ausdruck seines Anspruchs, die Kirche nicht nur geistlich zu erneuern, sondern auch strukturell und machtpolitisch neu zu ordnen. Weniger in seinen Zielen als in der Art ihrer Durchsetzung hatte Leo so den Aufstieg des hochmittelalterlichen Papsttums eingeleitet. 

Während seiner regen Reisetätigkeit weihte Leo Kirchen und Klöster und nahm zahlreiche Heiligsprechungen vor – auch vor der Gemeinschaft der Gläubigen sollte Präsenz markiert werden. Speerspitze seiner Politik war das Reformmönchtum. Das elfte Jahrhundert war die grosse Zeit der Mönche und Nonnen. Während Priester, Bischöfe und andere Weltgeistliche im Diesseits wirkten, sich um das Seelenheil der Laien kümmerten und oft weltliche Verwaltungsaufgaben übernahmen, suchten Mönche und Nonnen in der Abgeschiedenheit der Klausur nach spiritueller Reinheit. In der Abkehr von der als sündhaft empfundenen Welt widmeten sie sich der religiösen Andacht. Weltgeistliche wurden von ihrer Umwelt oft als dekadent wahrgenommen: Sie führten Ehen oder zeugten wenigstens uneheliche Kinder, verkauften kirchliche Ämter und liessen es sich auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung gutgehen. Im Gegensatz dazu rief das Leben der Mönche und Nonnen, die bei ihrem Eintritt ins Kloster strenge Gelübde - Gehorsam, Armut, Keuschheit und Demut - ablegten, grosse Bewunderung hervor. Das klösterliche Leben war dem Jenseits einen Schritt näher. Abgekehrt von den Lastern dieser Welt konnte man im Kloster ein Stück himmlisches Jerusalem auf Erden finden.  

Bereits in seiner Zeit als Bischof von Toul pflegte Papst Leo IX. enge Beziehungen zu den grossen Reformklöstern seiner Zeit – allen voran zu Cluny und Hirsau. Besonders mit Hugo von Cluny, dem später so genannten „Vater der Mönche Europas“, verband ihn eine enge geistige Verwandtschaft. Dessen Ideale deckten sich mit Leos Visionen einer Erneuerung der Kirche. Auf seiner Reise von Basel zur Insel Reichenau fand er auch in Schaffhausen Gleichgesinnte. Mit der Weihe Allerheiligens sollte ein weiteres Reformkloster entstehen und sich in sein Netzwerk der Macht einreihen – während der Wirren des Investiturstreites stand Allerheiligen dann auch fest an päpstlicher Seite. 

 

Elsi Vöglin 

Die Geschichten einfacher Leute zu erzählen, gehört zu den grössten Herausforderungen der Geschichtsschreibung. Die grosse Schicht der Analphabeten hinterliess so gut wie keine Selbstzeugnisse und die Postulate von Theologen und Moraltheoretikern konnten ihren Lebensumständen kaum ferner sein. Auch Gesetzessammlungen wie das Schaffhauser Stadtbuch von 1385 helfen nur wenig weiter, steht dem geschriebenen Recht doch eine Fülle informeller Normen und ungeschriebenen Gewohnheitsrechts gegenüber – insbesondere, was die für Frauen besonders bedeutsamen Bereiche wie Sexualität, praktische Zwänge der Kinderfürsorge und Vorstellungen weiblicher Ehre anbelangt. Einen Ausweg bietet der Zugang über die Abweichung von der Norm. Anders gesagt: die einfachen Leute rücken meist dann ins Licht der Quellen, wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. So ist es auch im Fall von Elsi Vöglin – einer jungen Frau aus Zürich mit herzzerreissender Lebensgeschichte. Unsere Magd, wie sie in «Schaffhausen im Mittelalter» die Bühne betritt, ist lose an die historische Person Elsi Vöglins angelehnt. Auf ihr Leben werfen die Rats- und Richterbücher der Stadt Zürich zwischen 1414 und 1421 einige traurige Glanzlichter. Überliefert ist diese Geschichte zwar aus Zürich, vergleichbare Schicksale wird es aber gewiss auch in Schaffhausen gegeben haben. 

Penibel und für das Spätmittelalter ausserordentlich detailliert sind in den Zürcher Rats- und Richterbüchern Nachgänge, private Klagen und Zeugenaussagen festgehalten. Für die Erforschung der Lebenswelten einfacher Menschen sind sie eine wahre Fundgrube – ein seltenes Fenster in den Alltag und die Mentalitäten der sonst kaum greifbaren Unterschichten. (StAZH, B VI 202, 231r)

In ihnen tritt Elsi im Jahr 1414 zunächst als Opfer hervor, bevor sie in den Jahren 1415 und 1421 selbst als Täterin – oder doch eher als Opfer der unerbittlichen Normen ihrer Zeit – ins Visier der Justiz rückt. Die Eröffnung eines sogenannten Nachgangsverfahrens, mit denen der Zürcher Rat Offizialdelikte ahndete, schildert uns folgenden Hergang. Ueli Tek habe ein «Töchterli» – Elsi wird keine zwanzig Jahre alt gewesen sein – «in die Reben» verschleppt und sie dort «überrungen». Elsis Geschichte beginnt also mit der grauenvollen Vergewaltigung einer blutjungen Frau. Während sich der Täter aus der Affäre zieht, indem er einige Freunde hinzuzieht, die seinen einwandfreien Leumund bezeugen, wird Elsi schwanger. Für die junge Frau ist das eine Katastrophe, belegt die Geburt eines unehelichen Kindes doch weithin sichtbar ihr scheinbar liederliches Wesen und ihre Ehrlosigkeit.  

So setzt sie in der Folge alles daran, die Schwangerschaft vor ihren Mitmenschen zu verheimlichen. Ganz auf sich allein gestellt ist sie dabei nicht. Mit Hilfe einiger Frauen aus der Nachbarschaft wird das Kind nach der Geburt von Haus zu Haus weitergereicht, nach Sitte der Zeit gebadet und wohl durch die herbeigerufene Hebamme getauft. 

Auch ihr Hausherr, ein angesehener Schmiedemeister, bei dem Elsi möglicherweise als Magd beschäftigt war, zudem dessen Ehefrau stehen ihr offenbar bei. Dabei wäre es ihre Pflicht gewesen, die Geburt des «Bastards» beim Rat zu melden. Als sie vom Ratsknecht befragt werden, geben sich beide auffallend wortkarg. Der «hübsche» - das soll hier heissen «uneheliche» – Knabe wird schliesslich einer armen, vor der Kirche sitzenden Frau überlassen. Doch alle Bemühungen sind vor den wachsamen Augen der Nachbarn nicht gefeit. Elsi verrät ihre Niederkunft durch das Tragen eines frischen Kleides, das Sammeln von Nusslaub, dem eine antiseptische Wirkung für das Wöchnerinnenbad zugeschrieben wurde, und Petersilie. Das Kraut sollte den Milchfluss, der sie als Kindbetterin enttarnt hätte, mindern.  

Das Gerede der Nachbarschaft – in einer Zeit ohne Polizeiapparat ein wesentliches Instrument sozialer Kontrolle – bringt den Fall vor den Rat. Elsi Vöglin wird wegen der Aussetzung ihres Kindes für ein halbes Jahr aus Zürich verbannt. Ob dabei mildernde Umstände geltend gemacht wurden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen – in anderen Städten war für ein solches Vergehen oftmals ein ganzes Jahr Verbannung oder gar eine härtere Strafe vorgesehen. Als Motiv gibt Elsi Juderin – möglicherweise eine Freundin Elsis – zu Protokoll, «Dar nach kam ir bruͦder […] den vorcht [fürchtet] si. Wol hat si des kindlis gelougnet. Dz hat si getan von ir frùnden und vorcht wegen [aus Furcht vor ihrer Verwandtschaft]». Wenn die städtische Gemeinschaft und sogar die eigene Familie schon im Fall einer – zumindest aus damaliger Sicht – mutmasslichen Vergewaltigung derart hart reagierte, wie gnadenlos musste sie dann eine uneheliche Schwangerschaft werten, die aus jugendlichem Leichtsinn oder romantischer Schwärmerei hervorging? 

Elsi Vöglin hatte ihre Verbannung unbeschadet überstanden und war in die Stadt zurückgekehrt, hatte jedoch die Nachbarschaft gewechselt – darüber geben uns die Steuerbücher Auskunft. Doch hatte sie ihre Ehre verloren, durch die uneheliche Schwangerschaft, das Gerede am Brunnen und in den Wirtshäusern, ihre Verbannung. Für ihren weiteren Lebensweg verhiess das nichts Gutes. Die Ehre war im Mittelalter ein zentraler Bestandteil der sozialen Existenz. In einer weitgehend mündlichen und über Beziehungen definierten Gesellschaft hatten ihr Besitz oder Verlust weitreichende Auswirkungen auf die unterschiedlichsten Lebensbereiche. Gerade im Fall einer als «Hure» abgestempelten jungen Frau – weniger im Sinn von «Sexarbeiterin» als der noch heute gebräuchlichen Beleidigung – konnte Ehrverlust die Aussichten auf eine Ehe entscheidend schmälern. Auch die Möglichkeiten, etwa als Magd in einem ehrbaren Haushalt eine Anstellung zu finden oder ein Mietverhältnis eingehen zu können, waren in Gefahr, minderte doch ein ehrloses Haushaltsmitglieds die Ehre und Ansehen des gesamten Haushalts. 

Von ihrer Familie verstossen und auf sich allein gestellt, blieb Elsi nur wenig Spielraum, ihre schwierige Lage zu bewältigen. Prostitution mag für sie eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten gewesen sein, ihr Überleben zu sichern. Und das bedeutete neue Gefahren, noch schärfere soziale Ausgrenzung, weiteren Ehrverlust. Und so endet die Geschichte der jungen Frau auch nicht nach ihrer ersten Verbannung. Im Herbst des Jahres 1420 war Elsi erneut schwanger geworden. Im peinlichen Verfahren nannte sie zwar einen Vater: «ein Hasse Pfluoger von Waldshut». Doch auch dieser Mann, wenn er denn tatsächlich existierte und nicht nur eine Erfindung unter den Qualen der Folter war, zeigte kein Interesse am Wohl des Kindes oder der Mutter, war offenbar in der Stadt nicht bekannt. Diesmal hatte Elsi das Kind einfach vor das Spital gelegt. Als Wiederholungstäterin wurde sie «umb die frefel bosheit und dz unrecht so die frow getan hat» ohne Aussicht auf Gnade über den Rhein hinaus für immer und ewig aus Zürich verbannt. Vielleicht war im Jahr 1421 auch Schaffhausen eine Station ihres Leidensweges. 

Quellen 

 

Streit wegen der Fronwaage 

Frevelbuch (STASH, Justiz I 1): 

Die Metzger wegent flaisch in der metzi 25 lb. Und darob, das si ze fronwag soltent wegen. (ca. 1373 Herbst) fol 31. 

Die Metzger hant flaisch gewogen ob ainem vierdung, sid dem mal, das sich der rat erkande, das her Hans der Schultheiss bi sinem brief sol beliben um fronwage und sunderlich Peter Negelli. Die metzger und die weber wegent nit an der fronwag, als si sont, und nement damit herr Johann dem Schultheiss das sin mit gewalt und ane reht (ca. 1383?) fol. 75v. 

 

Herzog Albrecht dankt Schaffhausen für die während des Sempacherkrieges geleistete Hilfe. 

Quelle 

1388 V. 8. Ze Wienn.  

Den erbern, wisen, unsern sunder lieben vnd getruwen, dem rate vnd den burgern gemeinlich zu Schafhusen. 

Wir, Albrecht, von gotes gnaden hertzog ze Osterreich, ze Steyr, ze Kernden vnd ze Krain, graf ze Tyrol etc. embieten den erbern, wisen vnsern sunder lieben vnd getruwen, dem rat vnd den burgern gemeinlich ze Schafhusen vnser gnad vnd alles gut. Yns habint ûwer zwen mit purger, die ir zu vns yetzunt gesendet hand, iuwer meynung vnd bot schaft erberlich vnd wislich furgelegt vnd haben auch wir in darüber vnser antwort gegeben vnd auch vnserm lantvogte darumb verschriben als si ùch hinwider wol sagen sullent. Bitten wir ùch mit gantzem flisse, daz ir ùch vnser vnd uwer Sachen lassend getruwlich empholhen sin, als ir allwend biz her getan hand vnd als wir uch wol getruwen. Wir danken auch uwer erberkeit mit gantzem ernste der getruwen dienst, die vns von ùch in vnserm vnd ùwern gegenwurtigen krieg beschehen sind vnd ist vns auch ùwer schad getrùlich leid. Doch sullent ir darab nicht vast erschrecken, wan sich in kriegen sôlich lôuff vergeen müssend, sunder daz ir guten mût habend, wan wir vns darauf stellen, daz wir vntzweiuelleich gedingen zu gote, daz wir vns vnd ùch noch er vnd frum schaffen wellen.  

Geben ze Wienn an freytag nach dem auffarttag LXXXVIII. 

 

Die Liste der Gefallenen 

Chronist Aegidius Tschudi, der die ganze Verlustliste aufzustellen versuchte, kam für Schaffhausen zu folgendem Resultat: Von Schaffhusen kam um Herr Diethelm der Schultheiß, Ritter; Eberhard der Löwe, Hans Heggetzi, Eberhard Hun, Wilhelm im Thum, Hanß im Winckel, der Hegnower, Hans Fulach, Hanß Brümsi, Gebhard Rochart von Ylenberg, Hanß Irmensee, Albrecht Pfluger, Hanß Ammann, Cuntz Brun, Heinrich Lütfarer. Rüeger suchte die Liste Tschudis zu ergänzen und kam auf 23 Gefallene. Bei einer großen Zahl von Adelsgeschlechtern taucht in Rüegers genealogischen Forschungen immer wieder die Formel auf: «...ward anno 1386 im schweren strit vor Sempach von Eidgenossen erschlagen». (Schib, Karl: Schaffhausens Anteil am Sempacherkrieg, in: Schaffhauser Beiträge zur vaterländischen Geschichte 16, 1939)

 

Der Gütertausch 

Die ältesten Urkunden von Allerheiligen in Schafhausen, Rheinau und Muri, Basel 1883 (Quellen zur Schweizer Gschichte III), S. 6 f. 

Der Zürichgraf Eberhart vertauscht zum Bau des Klosters Allerheiligen mit dem Zähringer Bertold, dem Vogte der Kirche Bamberg, ein Gut zu Rodilinstein gegen den Besitz dieser Kirche in Schaffhausen. 

1050 Anfang März. Hilzingen. 

In nomine sancte et individue trinitatis. Notum sit omnibus Christi fidelibus, presentibus et futuris, qualiter Eberhardus, comes Turegie provincie, quosdam agros in vado Scephusiensis sitos, ad episcopium Babinbergense pertinentes, a Bertholdo Carinthiorum duce, qui advocatus super easdem res fuerat, justo concambio mutaverit ac sripto cyrographo in testimonium inter amborum heredes perpetuo firmaverit. Anno namque dominice incarnationis millesimo L., pontificatus domini Leonis noni pape secundo, Heinrici vero tercii imperatoris anno undecimo, prefatus Eberhardus comes domum sanctum Salvatori et omnibus sanctis eius in loco, qui Scefhusen dicitur, predio suo edificare cepit. Sed ad huius structuram lapides et harenam in quodam agro Babinbergensis ecclesie nesciens tollere presumpsit. Qudo ubi dux B(ertholdus) comperit, E(berhardo) comiti, quod nimis inconsulte faceret, pacifice mandavit, suis votis minime convenire alterius ecclesie bona invader, qui jam propria Deo destinasset donare. Igitur E8berhardus) comes verba ducis prudenter animadvertens, continuo duci, quo sibi apud Hiltisingen colloquium prestaret, per nuntios demandavit, ibique convenientes coram militibus suis, interposita jurisjurandi attestatione, quod concambium Babinbergensi ecclesie utilius esset factum quam ergo Eberhardus comes B(ertholdo) duci de proprio suo predium ad Rodilinstein, in Rinharth situm, semper pro unoquoque agro duos vel tres fideliter remetiens, in potestatem Babinbergensis episcopatus perpetuo obtinendum, et ipse exontra a duce sucepit, que in loco Scephusen ad prefatum episcopatum pertinebant, in eternum possidenda. 

Actum anno superius dicto, dominice incarnationis millesimo L., in initio martii mensis, coram idoneis testibus, quroum hic nomina subscipta sunt: Herimannus marchio, filis Bertholdi ducis, Burchardus et Eberhardus et Adelbertus filii Eberhardi comitis. Adalbero de Engin et filii eius Burchardus et Bertoldus. Liutoldus et Ropertus de Fusibach. Hoch de Mringen. Landoldus Winzelun. Adalbertus de Swerein et Arnaldus frater eius. Richolfus de Banchelshoven et Foccho et Rodolfus filii sui. Egilwart de Calpfen. Chono de Seolvingen et Sigefredus frater eius. Adalbertus Strazza. Tuto de Honstetin. Wipertus de Honerhusin. Gospertus de Liutgerningen. Alberich de Biberaha. 

Ego itaque Liutpaldus, presbiter et capellanus, rogatus scripsi et subscripsi feliciter. Amen (R.) 

 

Eigene Übersetzung: 

Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreifaltigkeit. 

Allen Christgläubigen, den gegenwärtigen wie den zukünftigen, sei kundgetan, wie Eberhard, Graf der Provinz Zürich, bestimmte Felder im Bereich des Schaffhauser Rheinübergangs, die zur Bamberger Diözese gehörten, von Berthold, Herzog von Kärnten, der als Vogt über diese Güter eingesetzt war, in einem rechtmässigen Tausch übernommen und dies in einem Cyrographum [zweiseitiges Schriftstück] zum dauerhaften Zeugnis für beide Erblinien beurkundet hat. Im Jahr der Menschwerdung des Herrn 1050, im zweiten Jahr des Pontifikats von Papst Leo IX. und im elften Jahr der Herrschaft Kaiser Heinrichs III., begann der genannte Graf Eberhard, dem heiligen Erlöser und allen Heiligen an einem Ort, der Schaffhausen genannt wird, auf eigenem Grund ein Gotteshaus zu errichten. Doch nahm er unwissentlich für diesen Bau Steine und Sand von einem Grundstück, das der Bamberger Kirche gehörte. Als Herzog Berthold dies erfuhr, liess er dem Grafen friedlich ausrichten, dass sein Handeln unbedacht sei und es seinen Absichten widerspreche, das Eigentum einer anderen Kirche anzutasten, wo er doch bereits beschlossen hatte, eigenes Gut Gott zu widmen. Der Graf bedachte die Worte des Herzogs mit Klugheit und liess diesen sogleich durch Boten bitten, sich mit ihm in Hiltisingen zu treffen. Dort kamen sie zusammen, in Gegenwart ihrer Gefolgsleute, und unter eidlicher Bekräftigung wurde festgestellt, dass der Tausch zum Nutzen der Bamberger Kirche erfolgt sei. Graf Eberhard überliess dem Herzog ein Grundstück bei Rodilinstein in Rinhart, wobei er für jedes getauschte Feld zwei- bis dreifach Ersatz leistete, damit dieses dauerhaft in den Besitz der Bamberger Kirche übergehe. Im Gegenzug erhielt er von Herzog Berthold jene Güter bei Schaffhausen, die zuvor zur Bamberger Kirche gehört hatten, zum ewigen Besitz. 

Geschehen im oben genannten Jahr, im Anfang des Monats März, in Gegenwart glaubwürdiger Zeugen, deren Namen hier verzeichnet sind: Herimann, Markgraf, Sohn des Herzogs Berthold. Burchard, Eberhard und Adelbert, Söhne des Grafen Eberhard. Adalbero von Engen mit seinen Söhnen Burchard und Berthold. Liutold und Ropert von Fussbach. Hoch von Meringen. Landold Winzelun. Adalbert von Schwerin und sein Bruder Arnald. Richolf von Banchelshofen und seine Söhne Foccho und Rudolf. Egilwart von Kaltbrunn. Chono von Seelwangen und sein Bruder Sigefred. Adalbert von Strazza. Tuto von Hohentengen. Wipert von Honerhusin. Gospert von Lütgeringen. Alberich von Biberach 

Ich, Liutpald, Priester und Kaplan, habe auf Bitten in gutem Gelingen geschrieben und unterzeichnet.

Amen. (R.) 

 

Nachgangsverfahren Elsi Vöglin 

StAZH, B VI 202, 231r - 231v 

Man sol noch gan und richten als ein frow sol kindet habn̄. Und aber 

die selb frow spricht, sy hab nit kindet und wer dz von ir sag, 

der lüge sy an. Und weis ouch nieman wer dz kind komen ist. 

 

Kraft Murer d [icit, sagt]. dz im die hebam, heist die Steinerin, sin wip geseit 

habin, dz Elsi Voglin uff unser herren tag nechst ein kindli hab 

brocht. Er weis wol dz si trug. Und weis nit wor dz kind ist komen. 

Wol seit man es wurde der Bussinen gesant. Er seit ouch, dz si lügne 

dz si ein kind habe bracht. 

 

Bussin, d. dz die Steinerin kam mit ein kindlin, wz ein hùpsch knab, 

und halff ir dz vmb gottes willen baden und rat tun. Dz kindli 

kam zu dem vogelsanng wart einer armen frowēn. Die frow seit ir 

es wer der Kraft Murerin husfroͧw. Si weis aber nit, wo dz kind jetz 

ist. 

 

Die Steinerin d. dz si uff vns herren tag wz bi einer frowen in 

Kraft Murers hus. Die selb frow brocht ein hùpschen sun. Dz kind 

nam die Steinerin trug dz zuͦ der Bussin. Die half in dz baden und 

eret dar an unsern herren goti iter. Und da trug si dz kind zuo de Vogel  

sang, gieng die got mit iro. Und liess dz einer armen frowen, sitzt 

mit drin kinden von der kilchen. 

 

Kraft Murer wip d. dz Elsi Voglin ir husfrouw trug. Do jetz 

kurtzlich wart uff einen tag, do vand si die husfrouw im gartn, 

hatt nussloub in der hand und ein schön gewand an. Do kamen 

ir nachburen zuͦ der Murerin, sprachin, min Murerin war umb 

heist nit din husfrown hüpschlin tun, si gat da im 

gartn̄ gewunt nussloub. Do sprach die Murerin, wz wist ir dann. 

Do sprachen si, sy hette gester ein kindli gewunnen und wer ein 

kindbeterin. Do gieng die Murerin rett dz tugenlich mit 

ir won si wiste nit, dz si kindet hatt. Do lögnet si sin und 

handlet, dar zuo die Murerin vast übel mit worten. Si weis 

auch nit wo dz kind ist. 

 

Elsi Juderin d. dz Elis Voglin ein kindli gewunnen uff 

uns herren tag. Dz selb kindli ist ze talwil an einer amman [Säugamme]. 

Trug ir eigene muͦter, dz kind an die amman. Dar nach kam ir 

bruͦder macht dem ein suppen. Den vorcht si. Do gieng si wol 

in den garten und gewan beterli. Wol hat si des kindlis 

gelougnet. Dz hat si getan von ir frùnden und vorcht wegen [aus Angst vor ihrer Verwandtschaft]. 

 

Elsi Voglerin sol 1/2 jar von der stat 

swerren. Ind. Fia quta aner audiet. [unklar]. 

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