Skip to main content

Persönliche Briefe als Ausdruck von Emotionen

Eine Anleitung zum Lesen von Auswandererbriefen

Die meisten der vorliegenden Briefe stammen von Menschen aus ärmeren Schichten der Gesellschaft. Obwohl viele von ihnen schreiben konnten, hatten sie selten oder nie die Gelegenheit, sich schriftlich auszudrücken. Einige waren sogar Analphabeten und mussten ihre Briefe diktieren und von anderen niederschreiben lassen. Dementsprechend ist das Schriftbild oft schwer zu entziffern und die Briefe enthalten viele Rechtschreib- und Grammatikfehler sowie fehlende oder unzureichende Interpunktion. Viele Worte sind heute kaum noch lesbar oder verständlich. Auch stilistisch und inhaltlich sind viele der Briefe für den heutigen Leser schwierig zu lesen. Inhaltlich sind die Briefe oft nicht sehr informativ und bieten heutigen Lesern wenig Interessantes. Stattdessen enthalten sie oft lange Aufzählungen von Getreide- oder Viehpreisen. Viele Menschen schrieben so, wie sie sprachen, und verwendeten zunehmend englische Worte, die sie nach phonetischem Verständnis niederschrieben. Ihre Ausdrucksmöglichkeiten waren oft sehr begrenzt, da sie nicht geübt darin waren, Emotionen und Eindrücke in Worte zu fassen. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, die richtigen Worte zu finden, griffen sie oft auf Bibelzitate und Redewendungen zurück, die allgemein bekannt waren. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Briefe von „einfachen“ Leuten auch einfach zu lesen wären. Stattdessen spiegeln sie die begrenzten schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten dieser Menschen wider und erfordern oft eine besondere Sorgfalt bei der Entzifferung und Interpretation (Zalto, 2013, S. 15-19).

Ungewissheit: Eine deutsche Familie in Quebec, Kanada (wohl nach 1900)

© New York Public Library

Die Schwierigkeiten für den heutigen Leser der Auswandererbriefe

Außerdem muss berücksichtigt werden, dass Briefe zu jener Zeit oft nicht als Kommunikationsmittel im heutigen Sinne angesehen wurden. Es war üblich, dass ein Brief mehrere Wochen oder sogar Monate unterwegs war und dass die Antwort nicht unmittelbar erfolgte. Es gab keinen festgelegten Briefstil und es wurde auch nicht erwartet, dass jeder Brief eine bestimmte Länge oder Form hatte. Es war vielmehr üblich, dass man schrieb, wenn man etwas mitzuteilen hatte, und dass man dabei seine eigene Art und Weise der Ausdrucksweise und des Schreibens pflegte. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Bedeutung der Briefe als historische Quelle. Trotz der genannten Schwierigkeiten und Besonderheiten sind die Briefe wertvolle Dokumente, die uns Einblicke in die Lebensumstände und -bedingungen der Menschen zu jener Zeit geben können. Sie erzählen von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Ängsten und Freuden, von Alltagserlebnissen und besonderen Ereignissen. Sie zeigen auch, wie sich die Sprache und die Schreibweise im Laufe der Zeit verändert haben und wie sich die Menschen an die neuen Bedingungen und Anforderungen angepasst haben. Kurz gesagt, die Briefe sind ein wichtiges Zeugnis der Zeitgeschichte und verdienen daher unsere Aufmerksamkeit und Wertschätzung (Zalto, 2013, S. 20).

Abschied der Auswanderer von ihrer Heimat

© Carl Wilhelm Hübner

Die wichtigsten Themen der Briefe

Die Schriftstücke der Auswanderer zeigen deutlich, dass der Hauptzweck ihrer Briefe an Freunde und Verwandte in Deutschland die Aufrechterhaltung der Kommunikation und des Kontakts zur Heimat war. Deshalb nahmen Grüße an Bekannte, Fragen nach dem Wohlbefinden und Berichte über Bekannte und Verwandte in Amerika viel Raum in den Briefen ein. Überraschenderweise beziehen sich die Briefe jedoch nicht in erster Linie auf die Erfahrung der Auswanderung, sondern vielmehr auf das, womit die Auswanderer den Großteil ihrer Zeit verbracht haben und auch schon in ihrer früheren Heimat verbracht hatten, nämlich die Arbeit. In den Briefen äußern sich die Auswanderer ausführlich über ihre Arbeit und damit zusammenhängende Themen wie Arbeitsbedingungen, Arbeitssuche, Arbeitsweise, Löhne, Arbeitslosigkeit und Maschinen in Amerika. Farmer berichten über Landpreise, Getreidepreise, Viehhaltung, Viehpreise, Ernte und sonstige Erträge. Der Lebensunterhalt und die Arbeit waren für die meisten Auswanderer der Hauptgrund, warum sie nach Amerika ausgewandert sind, um Arbeit zu finden, mehr zu verdienen und einen höheren Lebensstandard zu erreichen. Auch die Briefempfänger in Deutschland waren an diesem Thema interessiert, da Arbeit ebenfalls ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens war und sie sich über die vorherrschenden Arbeitsbedingungen, Löhne und dergleichen in Amerika informieren wollten, insbesondere wenn sie selbst eine Auswanderung in Erwägung zogen. Infolgedessen wurde oft über dieses Thema in den Briefen berichtet. Obwohl sich der Lebensraum der Auswanderer geändert hat, verbrachten sie dennoch größtenteils ihr Leben damit, hart zu arbeiten, und das hat sich wenig geändert (Zalto, 2013, S. 51-58).

Auf dem Weg zu einer neuen Perspektive

© Planet Wissen

Das Schreiben

Die meisten Auswanderer schrieben nicht aus reiner Freude am Schreiben, sondern weil sie auf diese Briefe angewiesen waren, um den Kontakt zu Freunden und Familie in ihrer alten Heimat aufrechtzuerhalten. Eine Unterbrechung der Kommunikation hätte bedeutet, dass sie die Verbindung zu ihren Lieben in der Ferne verloren hätten. Daher war es für sie von großer Bedeutung, regelmäßig zu schreiben und Neuigkeiten zu übermitteln. Die Briefe waren das einzige Mittel, um auf dem Laufenden zu bleiben und um sicherzustellen, dass alle Beteiligten wussten, wie es den anderen erging. Auch wenn das Schreiben anstrengend sein konnte und Zeit und Mühe kostete, waren diese Briefe ein wichtiger Bestandteil des Lebens der Auswanderer und ihrer Familie und Freunde in der Heimat (Zalto, 2013, S. 58).

Gründe und Entschuldigungen, warum man nicht schrieb

Die Auswanderer berichten in ihren Briefen oft mehr über ihre Gründe, warum sie nicht schreiben konnten, als über die Inhalte ihrer Briefe. In vielen Fällen waren sie sich bewusst, wie wichtig diese Briefe waren, um den Kontakt zur Familie und Freunden in der Heimat aufrechtzuerhalten, und fühlten sich schuldig, wenn sie nicht regelmäßig schrieben. Die Gründe, warum sie nicht schreiben konnten, waren dabei sehr unterschiedlich. Manche hatten schlichtweg keine Zeit, weil sie den ganzen Tag auf dem Feld oder in der Fabrik arbeiteten. Andere klagten darüber, dass das Schreiben ihnen Schwierigkeiten bereitete, sei es aufgrund mangelnder Schreibkenntnisse oder aufgrund körperlicher Beschwerden wie Kopfschmerzen oder Augenprobleme. Auch Krankheiten oder schlechtes Wetter wurden oft als Entschuldigung angeführt, genauso wie Geldmangel oder fehlende Briefmarken. Manche hatten auch Angst, dass ihre Briefe von der Zensur überprüft wurden und schrieben deshalb vorsichtiger oder gar nicht. In jedem Fall betonten die Auswanderer jedoch, wie wichtig es für sie war, den Kontakt zur Heimat aufrechtzuerhalten, und wie sehr sie sich auf eine Antwort freuten. Oft baten sie auch um Verständnis für ihre Situation und versprachen, in Zukunft regelmäßiger zu schreiben (Zalto, 2013, S. 63-66).

Das Warten auf Briefe

Dieses ungewisse Warten und Hoffen auf Briefe, das Bangen, ob die eigenen Briefe wohl ankämen, aber auch die Verärgerung darüber, dass man zu lange auf Antworten warten musste, findet sich in vielen der Texte wieder. Das Warten auf Briefe konnte sehr mühsam und enttäuschend sein und führte zu Kränkungen. Denn, dass man die damit verbundenen Mühen und Kosten eines Briefes auf sich nahm, war auch ein Zeichen der Wertschätzung den anderen gegenüber (Zalto, 2013, S. 66-69).