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Briefliche Nähe und Zensurbestimmungen

Nicht nur in außergewöhnlichen Zeiten und gesellschaftlichen Ausnahmezuständen sind Briefe essentielle Möglichkeiten, um sowohl familiäre als auch romantische Beziehungen aufrechtzuerhalten. Insbesondere in Kriegszeiten stellt die relativ verlässliche "Feldpost" ein zentrales Kommunikationsmedium dar. Eva Lia Wyss beschreibt die Relevanz der Briefkorrespondenz, die über eine reine Kommunikationsfunktion hinausgeht:

"Der private Brief wird im Krieg zu einem Lebenszeichen und damit auch zu einem Memento Mori." (Wyss 2005: 207)

Insbesondere für Ehepartner:innen, die gemeinsame Kinder haben beziehungsweise bei denen eine finanzielle Abhängigkeitssituation besteht, hat dieses "Lebenszeichen" einen hohen Stellenwert für das Leben und Auskommen in der Heimat.

Die Aufrechterhaltung der Beziehungen stellt darüber hinaus eine wesentliche Funktion der Kriegskorrespondenz dar. Durch die räumliche Distanz zwischen den Kommunikationspartner:innen ist es nicht möglich, sich auf gemeinsame, gegenwärtige Erlebnisse zu beziehen - stattdessen stehen die Erinnerungen an gemeinsame Erfahrungen der Vergangenheit, Ausblicke auf eine gemeinsame Zukunft sowie die Versicherung der gegenseitigen Liebe im Vordergrund. (vgl. Schwender 2014: 217) Eine Folge dessen ist häufig die Entstehung eines idealisierten Bildes des Partners / der Partnerin und der gemeinsamen Beziehung. (vgl. Schwender 2014: 235)

Marina Dossena listet bezogen auf Auswandererbriefe verschiedene "involvement strategies" auf, die zur Überwindung der räumlichen Distanz der Kommunikationspartner:innen häufig verwendet werden (vgl. Dossena 2007: 21f.):

  • genaue Beschreibung des Ortes / des Wetters: "describe the place where (s)he is, perhaps with minute details (especially concerning the weather) that may help the reader visualize the context"
  • Antizipation der Reaktion des Empfängers / Zustände "zu Hause": "predict the recipient's reactions or the encoder's suppositions about what is going on at home - again, distance is shortened through virtual participation in each other's lives"
  • Klatsch und Tratsch ("gossip") über gemeinsame Bekannte, Todesfälle etc.
  • bewusster Einsatz von (gemeinsamem) Dialekt, bes. von gebildeten Schreiber:innen: "involvement is also signalled where dialect is employed humorously in letters by fully-schooled encoders"
  • mediatisierte Form familialer Beziehung : "acts of identity" (vgl. Wyss 2005: 218) --> "Ansprache mit Kinship Titles (als Mami, Papi etc.)" (vgl. Macha 1997: 214)

Die Beschreibung der Gegenwart ist nicht nur aufgrund der oft traumatischen Umstände schwierig, auch die Zensur der Feldpost erschwert anekdotische Erzählungen. So zensieren sogenannte "Feldpostprüfstellen" (F.P.P.) die Post stichprobenartig und führen Protokoll über die Stimmung der Truppen (vgl. Wyss 2005: 209) und machen Aufzeichnungen über etwaige Verstöße gegen die Zensurrichtlinien. Dazu zählen unter anderem:

  • kritische Äußerungen über die Maßnahmen der Armee- und Staatsführung
  • die Weitergabe von genauen Ortsangaben oder Gruppenbewegungen
  • die Verbreitung von Gerüchten

Ein Verstoß kann sowohl als "Fälle leichten Verrats" bis zu (im schlimmsten Falle) als "Zersetzung der Wehrkraft" geahndet werden und zu drakonischen Strafen führen.

Diese Vorgänge haben wesentliche Auswirkungen auf das private Briefschreiben: Briefe sind keine geheime und diskrete Textsorte mehr und können bei einem Zensurvorwurf gar zu einem gerichtlichen "Corpus Delicti" werden und gravierende Folgen haben. (vgl. Wyss 2005: 207) Dies führt dazu, dass Soldaten in ihren Briefen in die Heimat vergleichweise selten von Kriegserfahrungen oder damit einhergehenden Gefühlen und Bewertungen berichten. Stattdessen wird auf ein bestehendes Repertoire an Phrasen zurückgegriffen. (vgl. Schwender 2014: 219) Diese entsprechen im weiteren Sinn den grundlegenden pragmatischen "Briefstandards" (vgl. Wyss 2005: 216):

  • Bezugnahme auf bereits erhaltenes Schreiben
  • Frage nach Wohlergehen der Adressat:innen
  • Auskunft über das eigene Wohlbefinden
  • Grüße an gemeinsame Bekannte
  • evtl. Glückwünsche zu Jubiläen, Festen etc.

Gerade im direkten Vergleich zwischen den üblichen "involement strategies" und den Zensurbestimmungen der NS-Zeit kann festgestellt werden, dass mehrere sprachliche Strategien der Beziehungpflege und Herstellung von Nähe aufgrund dieser äußeren Umstände von den Schreiber:innen nicht gebraucht werden konnten.