Analyse
Mehrere Spezifika des Briefs können im Hinblick auf die strenge Zensur erklärt werden: der Mangel an konkreten Schilderungen aus dem Kriegsgebiet, die fehlende lokale Veortung des Schreibenden, die Konzentration des Schreibers auf die Zustände in der Heimat. Damit werden allerdings auch mehrere essentielle Strategien verunmöglicht, mit denen üblicherweise in Briefen Nähe zwischen den Kommunizierenden hergestellt wird.
Der Schreiber kann und darf nicht über seinen Standort berichten, hält aber dennoch die für Briefe übliche Ortsangabe am Briefbeginn ein - und verortet sich selbst im "Felde". Damit ist auch die genaue Beschreibung der Umgebung des Schreibers mitsamt Schilderung des Wetters nicht mehr möglich. Die Empfängerin erfährt lediglich, dass sich der Schreiber "in der ferne" befindet.
Während auch der gegenseitige Austausch von "gossip" aufgrund der Zensurbestimmungen nicht denkbar ist, betont der Schreiber mehrfach die familiäre Beziehung zur Empfängerin. In Form eines performativen "Act of Identity" (vgl. Wyss 2005: 218) bezeichnet er sich im Briefeinstieg und in der Schlussformel des Briefs selbst als "Papaherz", während er die Empfängerin nicht nur in der initialen Grußformel, sondern auch zweimal innerhalb des Brieftextes als "Mama" anspricht. Die gemeinsamen Kinder werden als "lb. drei" angesprochen. Trotz der räumlichen Distanz wird somit auf das Bild der "klassischen" Familie rekurriert. Neben der Betonung der Elternrolle wird die Empfängerin auch zweimal als "Weibi" angesprochen, was im süddeutschen Sprachraum durchaus als Kosename für die Ehefrau belegt ist.
Für die Analyse des vorliegenden Briefs wurde schließlich eine Zählung und Visualisierung der vorkommenden Types via "Voyant" vorgenommen. (s.u.) Hierbei konnte festgestellt werden, dass neben dem Personalpronomen "ich" vor allem inhaltsleere "Füllwörter" (Adverbien, Partikeln) überwiegen: auch, nun, wieder, noch, etc.
Besonders auffällig ist darüber hinaus die vermehrte Verwendung des Nomens "Zeit(en)". Diese hätten sich laut dem Schreiber "schwer verähndert". Zudem betont dieser die Wichtigkeit einer guten Gesundheit in "diesen Zeiten". Auch wenn die Umstände, in der der Brief verfasst worden ist, nicht dezidiert als negativ geschildert werden, kann dennoch herausgelesen werden, dass die "Zeiten" eben auch nicht gut und ohne Sorgen sind. Die zweifache Betonung der mangelnden Zeit lässt zudem abgesehen vom üblichen Gebrauch dieser formelhaften Wendung in Briefen auf eine schwierige Situation des Schreibers und evtl. sogar eine hohe Frequenz von Angriffen und Kriegshandlungen schließen.
Diese Strategie könnte bewusst eingesetzt werden, um trotz des zensurbedingten Verzichtes auf eine offene Kritik an der Armeeführung und Politik des NS-Regimes pauschal die "veränderten Zeiten" zu bemängeln. Diese Formulierung kann breit ausgelegt werden: Damit könnte nicht nur auf die schlechter werdende Versorgung mit Lebensmitteln und Gütern alltäglichen Lebens, sondern auch auf die sich 1944 durchaus abzeichnende Niederlage im Krieg gemeint sein. Es ist davon auszugehen, dass die Gesprächspartner:innen durchaus in der Lage sind, vage Bezeichnungen wie diese innerhalb ihres Erlebens zu kontextualisieren - allerdings geht aus dem Text nicht hervor, ob dies in diesem Fall tatsächlich geschehen ist.